\section{Paraphrenie und Klassifikationssysteme im weiteren 20.\,Jahrhundert} \label{ch:ausblick} In diesem Kapitel wird zuerst die Diskussion um die Benennung der endogenen Psychosen im frühen 20.~Jahrhundert beleuchtet, bei denen die Teilgruppe der schizophrenen und schizophrenieartigen Erkrankungen (nach heutiger Bezeichnung) zu dieser Zeit vorwiegend mit Kraepelins Begriff der ``Dementia praecox'' bezeichnet wurden. 1908 schlug Eugen Bleuler die Bezeichnung ``Schizophrenie'' vor, der sich bald durchsetzte. Weiters wird die Entstehung neuer Diagnosemanuale dokumentiert, deren Grundlage bereits im 19.~Jahrhundert gelegt wurde und die sich ursprünglich aus dem Wunsch nach international vergleichbaren Todesfallstatistiken entwickelten. Schlussendlich folgt ein kurzer Abriss über die spätere Verwendung des Begriffes der Paraphrenie in Fachtexten und Publikationen und ein Überblick über Geschlechtsunterschiede in der Diagnose bei ausgewählten Autor*innen. \subsection{Begriffliche Unstimmigkeiten um die Gruppe der endogenen Psychosen 1910 -- 1920: Dementia praecox, Schizophrenie und Paraphrenie}\label{ch:endogenepsychosen2} Eugen Bleuler schlug 1908 vor, die Gruppe der endogenen Psychosen in ihrer Gesamtheit als ``Schizophrenie'' zu bezeichnen und begründet dies 1911 und 1914 noch in separaten Artikeln.\footnote{\cite[S.~436ff]{bleulere1908}; \cite[]{bleulere1911}; \cite[]{bleulere1914}} Er sah den neueren Begriff als inklusiver und kompatibler mit Kraepelins ``Verblödungspsychosen'' als ``Dementia praecox.''\footnote{\cite[S.~20]{bleulere1914}, \cite[S.~292]{zapotoczky}} Karl Jaspers nimmt den Begriff Schizophrenie ebenfalls bereits 1913 auf: \begin{quote} ``Die Gemütskrankheiten erscheinen uns {\em einfühlbar} und {\em natürlich}, die Verrückheiten gar nicht einfühlbar, {\em unverständlich}, {\em unnatürlich}. Da die bisher treffendste Theorie die einzelnen Züge dieses unverständlichen Seelenlebens aus {\em Spaltungen} des Seelenlebens ableitet, hat [Eugen] {\em Bleuler} ihm den Namen {\em schizophren} gegeben, den wir auch als bloße Bezeichnung gebrauchen können, ohne immer jene Theorie zu bevorzugen.''\footcite[S.~89]{jaspers1913} \end{quote} Im selben Jahr publiziert Kraepelin den dritten Band der achten Auflage seines Lehrbuchs, in welcher die Paraphrenie erstmals genannt wird. In der Gruppe der endogenen Psychosen sieht Kraepelin die Paraphrenie bis 1916 in seiner ``Einführung in die psychiatrische Klinik''\footcite[S.~330f]{psykli} noch als eigenständige, wenngleich verwandte Gruppe neben ``Dementia praecox'' und ``manisch-depressivem Irresein''. Nach Wilhelm Mayers Artikel zu den Paraphrenien von 1921 % REF führt er sie ab der vierten Auflage 1921 als Untergruppe der ``Dementia praecox'' an.\footnote{\cite[S.~292]{zapotoczky}, \cite[]{mayer}} Mehr noch, auch bei ihm muss der Name ``Dementia praecox'' später dem Konzept der Schizophrenien weichen.\footcite[S.~292]{zapotoczky} % , das erstmals von % Eugen % Bleuler 1911\footcite[S.~292]{zapotoczky} vorgeschlagen wurde. Eugen Bleulers neuer Begriff erlangt bald allgemeine Verbreitung, da ein breiter Konsens darüber herrscht, dass nicht alle Patient*innen mit ``endogenen Psychosen'' den ``schwersten Endzustand'' nach Mayer-Gross erreichen würden\footcite[S.~297]{zapotoczky}. Während sein Begriff in der medizinischen Community alsbald Anklang findet, kann er im umgangssprachlichen Gebrauch wegen seiner Etymologie zu Missverständnissen führen, einerseits als Synonym für eine gespaltene Persönlichkeit, andererseits wird ``schizophrenic'' besonders im englischen Sprachraum als Synonym für einen Zustand des % Unentschlossenheit oder Entscheidungsunfähigkeit inneren Zwiespalts oder Widerspruchs ohne pathologischen Charakters verwendet. Dies wird teilweise auch Robert Louis Stevensons Werk ``Dr Jekyll and Mr Hyde'' von 1886 zugeschrieben, welches viel zur Vorstellung von Schizophrenen als Personen mit sprunghaft wechselnden Persönlichkeiten beigetragen hat.\footcite[S.~5f]{schizophreniathefacts} \subsection{Entstehung der Diagnosemanuale ICD und DSM} \label{ch:dsm} Auch im 20.~Jahrhundert wird versucht, die Diagnose zu vereinheitlichen. Dafür werden diagnostische Manuale von den Fachgesellschaften herausgegeben, die im Bereich der endogenen Psychosen teilweise an Kraepelins Einteilung orientiert sind. % TODO: historischer Abriss Kraepelin -- endog. Ps. -- Paraphrenie ... Dazu zählen sowohl die International Classification of Diseases (ICD) der World Health Association (WHO) als auch das Diagnostics Standard Manual (DSM) der American Psychiatric Association (APA). Die später von der WHO herausgegebene ICD hatte ihren Ursprung lange vorher. 1900 wurde von der französischen Regierung als Resultat eines internationalen Kongresses zur statistischen Erfassung von Todersursachen eine ``International List of Causes of Death'' verfasst, die offenbar bereits die selbe Abkürzung trug. Es war geplant, diese Liste zur Erstellung von Todesfallstatistiken in Zehnjahresabständen neu herauszugeben, was bis zur achten Ausgabe auch so geschah. Nach dem ersten Weltkrieg wurde die Liste vom Völkerbund herausgegeben. Bis zum zweiten Weltkrieg blieb sie aber nur in ihrer ursprünglichen Funktion bestehen, während viele Länder auch bereits Krankheitsstatistiken in Verwendung hatten, etwa Kanada, UK und die USA. Bereits in der fünften Version 1938 gab es eine Rubrik für nicht-tödliche Zustände, die sechste Ausgabe 1948 trug den Titel ``International Classification of Diseases, Injuries, and Causes of Death.'' Die siebente Version 1955 trug schließlich den heutigen Namen, inhaltlich wurden nur Fehler und Inkonsistenzen aufgearbeitet.\footcite[p.~191ff vol.~2]{icd10} In der Folge erlangte die Klassifikation weitere Verbreitung im klinischen Bereich. Aus dem Bedürfnis nach detailierterer Einteilung wurden in einigen Ländern Erweiterungen entwickelt. Die achte Version 1965 erfuhr einige radikalere Veränderungen. Während die Grundstruktur erhalten blieb, wurde bereits versucht, Krankheitsentitäten möglichst sowohl nach Ätiologie als auch nach Symptomatik einzuteilen.\footcite[p.~200 vol.~2]{icd10} 1975 richtete die WHO in Genf neuerlich eine Konferenz zur Entwicklung von ICD-9 aus. Einerseits bestand die Forderung wie bei der siebenten Version möglichst nur inkrementelle Veränderungen zu implementieren, um die Datenverarbeitung und -portierung zwischen den Versionen zu erleichtern. Andererseits wurde es zunehmend wichtiger, auch sehr detaillierte diagnostische Unterscheidungen zu ermöglichen, sodass bei der Einführung der vier- und fünfstelligen Diagnosen Wert darauf gelegt wurde, dass auch die dreistelligen Kategorien hinreichend Trennschärfe für die Statistiken behielten. Für die Klinik wurde weiterhin das ``dagger (†) and asterisk (*)''-System für Grunderkrankung und Symptome eingeführt, das auch in der zehnten Version beibehalten wurde.\footcite[p.~200f vol.~2]{icd10} Während die Ausgaben bis dahin grob in Zehnjahresschritten erfolgten, wurde bereits vor der Publikation der ICD-9 klar, dass die notwendige Vorlaufzeit größer wurde. Bereits vor Herausgabe der neunten Edition wurde daher die Arbeit an ICD-10 aufgenommen in der Hoffnung, dass diese Version dann länger in Verwendung bleiben könnte.\footcite[p.~202 vol.~2]{icd10} % TODO VOL 1 % TODO: ICD-11 Das DSM geht aus dem {\em Statistical Manual for the Use of Institutions for the Insane} von 1918 der American Medico-Psychological Association (später American Psychiatric Association) hervor. Die Motivationen sind ähnlich wie einige Jahre früher in Europa (siehe Kapitel~\ref{ch:kongress}), vor allem Diagnostik und Statistik: die Klassifikation wird ab 1923 auch bei den Volkszählungen des Bureau of Census verwendet.\footcite[p.~426]{grobdsmi} So essenziell das Manual für die Statistik war, so wenig Bedeutung hatte es für die psychiatrische Praxis, da die Kategorisierung grob blieb und damit keinen therapeutischen Vorteil bot.\footcite[p.~427]{grobdsmi} Schon in der Zwischenkriegszeit, aber noch mehr im zweiten Weltkrieg verbreiteten sich psychodynamische und insbesondere analytische Strömungen in der US-Psychiatrie. Die Zahl der Psychiater*innen in den Streitkräften vervielfachte sich, und psychotherapeutische Ansätze brachten viele Soldat*innen rasch an die Front zurück.\footcite[p.~341]{decker} Grob schreibt dazu: \begin{quote} ``Treatment in a local setting also ensured that soldiers were not separated for any length of time from their units and established social relationships. Overall, about 60\% of the soldiers who became neuropsychiatric casualties were returned to duty within 2-5 days. The highest success rates were found in forward combat units; the lowest at rear-echelon hospitals.'' \footcite[p.~427]{grobdsmi} \end{quote} Während vorher etwa alle Persönlichkeitsstörungen als ``psychopathische Persönlichkeit'' und alle Stresssymptome aus Kampfhandlungen als ``psychoneurotisch'' klassifiziert wurden, erstellten Army und Navy im Krieg umfangreichere Kataloge. Nach dem zweiten Weltkrieg kehrten viele der militärisch ausgebildeten Psychiater*innen ins zivile Gesundheitssystem zurück, und in der Gesellschaft entstand ein Bewußtsein dafür, dass psychiatrische Erkrankungen nicht immer eine stationäre Behandlung erforderten, sondern geistige Gesundheit als breites Spektrum von Zuständen betrachtet werden konnte. Innerhalb der APA gab es mit der {\em Group for the Advancement of Psychiatry } (GAP) ab 1946 eine Reformbewegung, die einen gesellschaftlichen Dialog anstrebte. Die bei den US-Streitkräften eingeführten psychiatrischen Klassifikationen bildeten die Basis sowohl für den psychiatrischen Teil der folgenden ICD-Versionen als auch für DSM-I 1950. Die Einteilung erinnerte an Kraepelins exogene und endogene Psychosen: DSM-I unterschied zwischen Fällen, die aus durch physische Einwirkung (einschließlich genetischer Erkrankungen wie Chorea Huntington) entstanden waren, und solchen, die mit einer Anpassungsstörung zusammenhingen. Letztere wiederum wurden eingeteilt in psychotische und psychoneurotische Störungen. Als ``psychotisch'' wurden ``manisch-depressive'' und ``paranoide'' Störungen eingeordnet, ``Psychoneurosen'' waren Angststörungen, dissoziative Störungen, Phobien, Zwangsstörungen und Depression.\footcite[p.~428]{grobdsmi} Die meisten Diagnosen interpretierte DSM-I als ``Reaktionen'' auf äußere Ereignisse, geistige Störungen wurden mehr im Ausmaß als nach der Art unterschieden. DSM-II machte es sich zur Aufgabe, die Kommunikation in der Fachwelt zu verbessern und Missverständnisse zu vermeiden. Greene sieht in der Revision eine deutliche Wendung hin zu Psychoanalyse, die zu dieser Zeit in den USA stark an Bedeutung gewinnt.\footcite[p.~364]{greene} Die Medizinhistorikerin Decker beschreibt weitergehende Unschärfen in der psychiatrischen Diagnostik der Zeit in Nordamerika, auf welche die Kriterien des DSM-II wenig Einfluss hatten. Die vorherrschenden psychoanalytischen Strömungen legten weniger Wert auf genaue Diagnosen, was zu Kritik sowohl innerhalb der Disziplin als auch von außerhalb führte, beispielsweise zeigte Rosenhan in 1973 in einem Experiment, dass ansonsten unauffällige Versuchspersonen über längere Zeit mit der Diagnose ``Schizophrenie'' in den Anstalten behalten wurden, wenn sie bei der Aufnahme bestimmte Reizwörter fallen ließen.\footnote{\cite[p.~341]{decker}; \cite[p.~364]{greene}} Laute Kritik an den Gepflogenheiten der Psychiatrie kam von der Antipsychiatriebewegung. Der schottische Psychiater Laing sorgte für Aufruhr mit der Hypothese, dass Schizophrenie mangels offensichtlicher anatomischer oder biochemischer Substrate keine Krankheit im klassischen Sinne wäre. Er interpretierte sie als Reaktion auf einen hoffnungslosen Zustand, in der eine Person die Symptome als Ausweg entwickelt. Andere sahen psychiatrische Diagnosen mehr als Stigma und stellten die Autorität oder sogar die Existenzberechtigung der Psychiatrie in Frage, so etwa Thomas Szasz und Michel Foucault.\footnote{\cite[p.~364]{greene}; \cite[p.~342]{decker}} % TODO: Foucaults Antipsychiatrie? Es bestand also Einigkeit, dass DSM-II einer Reform bedurfte. Kraepelins Ansichten blieben in der europäischen Psychiatrie vorherrschend, während in den USA schon auf Grund des beschriebenen Aufstiegs psychoanalytischer Strömungen und Emigrant*innen im zweiten Weltkriegs Freuds Ideen wichtiger wurden. Ein wichtiger Aspekt war, dass Gesundheit und Krankheit mehr als Spektrum denn als Kraepelins scharfe Trennung gesehen wurden.\footcite[p.~342]{decker} % TODO: Feministische Antipsychiatrie decker 344? Nicht zuletzt waren die US-Regierung und die Krankenversicherungen immer weniger überzeugt, dass die teuren Psychoanalysen ihr Geld wert waren, letztere pochten auf eindeutige Diagnosen.\footcite[p.~345]{decker} Es formierte sich in der psychoanalytisch dominierten APA eine Gegenbewegung, die vor allem von einer Gruppe an der University of Washington ausging. Führend waren Eli Robins (1921 -- 1994), Samuel Guze (1924 -- 2000) und George Winokur (1925 -- 1996), die sich sozial und wissenschaftlich regelmäßig austauschten und ihren Student*innen ihre wissenschaftliche Methode näherbrachten. Besonders John Feighner machte sich bald einen Namen in der Diskussion von Kriterien für Schizophrenie und andere affektive Störungen. Gemeinsam mit seinen Lehrern gründete er ein Komitee dafür, das nach einer Reihe von Forschungsparadigmen vorging. In einem großen Review von über 1000 Artikeln publizierte dieses eine Reihe von Einträgen zur Diagnose unterschiedlicher psychiatrischer Störungen, die eine Reihe spezifischer Kriterien beinhalteten, (``Feighner criteria'').\footcite[p.~347]{decker} Die Gruppe wurde von Gerald Klerman 1978 auch als ``neo-Kraepelinians'' bezeichnet.\footcite[p.~347f]{decker} Dem APA-Mitglied Robert Spitzer fiel die Rolle zu, ein Komitee für die Erstellung des DSM-III zusammenzustellen. Spitzer hatte sich bereits einen Namen gemacht im Konflikt, wie die Homosexualität einzuordnen sei. Er praktizierte eine Zeitlang Psychonalayse und sagte von sich selbst, kein ``neo-Kraepelinian'' zu sein.\footcite[p.~351]{decker} Laut Studien wurden die diagnostischen Kriterien in den meisten Bereichen als unzureichend empfunden. Spitzer erarbeitete dementsprechend gemeinsam mit Robins von der University of Washington 1974 eine Liste von 25 ``research diagnostic criteria'' (RDC). Die Arbeit stieß auf heftigen Widerspruch, es hieß sie sei anti-humanistisch und werde der Komplexität des menschlichen Geistes nicht gerecht. Spitzer argumentierte dagegen, dass diagnostische Trennschärfe nicht nur mit humanistischen Richtlinien vereinbar wäre, sondern auch die Behandlung psychiatrischer Patient*innen verbessern könnte. Freuds Anhänger*innen bemängelten die Abwesenheit von Diagnosekriterien für neurotische Störungen, die nun unter den ``affektiven Störungen'', ``Angststörungen'' und ``Hysterie'' eingeordnet waren. Auch die ``radikale'' Umgestaltung wurde bekritelt, DSM-III sei mehr für die Forschung als für die Klinik geeignet. Ein Resultat der vielen Einflüsse und kritischen Stimmen war die {\em multiaxiale Diagnostik}. Neben den fünf Achsen in der endgültigen Version gab es den Vorschlag einer psychoanalytischen Dimension, der aber wieder verworfen wurde. DSM-III wurde schließlich in der Jahresversammlung 1980 der APA angenommen.\footcite[p.~353f]{decker} Die endgültigen Achsen sind: \setlength{\leftmargin}{.5in} \begin{enumerate}[I. {Achse:}] \item Klinische Syndrome \item Persönlichkeitsstörungen \item Andere körperliche Störungen und Zustände \item Schwere von psychosozialen Stressfaktoren \item Höchste Stufe der sozialen Funktionsanpassung im letzten Jahr \end{enumerate} Dabei stellen die ersten drei Achsen die offizielle psychiatrische Diagnose dar, Achsen IV und V sind für klinische und wissenschaftliche Anwendung vorgesehen.\footcite[23]{dsmiiir} % TODO: Aufgabe der Achsen in DSM-V? % labelsep=8pt, % labelindent=0.5\parindent, % itemindent=0pt, % leftmargin=*, % listparindent=-\leftmargin % Die inhärenten diagnostischen Unsicherheiten der früheren DSM-Versionen hinterließen Vorsicht: Winokur beschrieb etwa 1988 Unterschiede in der Anwendung diagnostischer Kriterien an unterschiedlichen Zentren und anderer Fehlermöglichkeiten.\footcite[p.~355]{decker} % TODO DSM-III-V \subsection{Spätschizophrenie und Paraphrenie im 20. Jahrhundert nach Kraepelin: Manfred Bleuler, Ludwig Klages und der Wandel des DSM} \begin{quote} ``Yet Emil Kraepelin's Views on the typology of mental disorders -- often quoted, occasionally misquoted and at times hotly debated -- continue to frame much of the present-day psychiatric discourse.''\footcite[p.~381]{jablensky} \end{quote} Der Begriff der Schizophrenie geht wie in Kapitel~\ref{ch:endogenepsychosen2} beschrieben auf Eugen Bleuler zurück. Allerdings klingt auch bei Kraepelin in der achten Ausgabe seines Werkes eine recht differenzierte Sicht auf die endogenen Psychosen um die {\em dementia praecox} durch. Jablensky merkt an, dass neun verschiedene Formen vorkommen, die heute in den Bereich der schizoaffektiven oder akuten vorübergehenden psychotischen Störungen fallen würden.\footcite[p.~384]{jablensky} Es bestand weiter Uneinigkeit, ob die {\em Paraphrenie} wie bei Kraepelin als eigenständige Krankheitseinheit betrachtet werden sollte oder unter der Paranoia eingeordnet.\footcite[S.~421]{schnizer1913} Schnizer schreibt dagegen etwa 1914: \begin{quote} ``Die Frage, ob es für eine Einigung nicht zweckmäßiger gewesen wäre, wenn Kraepelin den neuerdings ausgeschiedenen Fällen die Bezeichnung Paranoia gegeben hätte, erübrigt sich; Tatsache ist, daß diese von ihm als Paraphrenien bezeichneten Fälle sich zu einem guten Teil mit den von seinen Gegnern als Paranoia angesprochenen Krankheitsbildern decken. Will man die vorhandene Verwirrung in der Paranoiafrage nicht noch unaufhörlich steigern, so wird man in Zukunft für diese, offenbar unter sich nicht wesensgleichen Krankheitsbilder vom Charakter eines Prozesses am besten die Bezeichnung Paraphrenie --- mindestens zunächst --- beibehalten.''\footcite[p.~116]{schnizer1914} \end{quote} 1914 schlug Albrecht vor, den Begriff ``präsenile Paraphrenie'' als Synonym für das Übergangsstadium zur Demenz zu verwenden, das nach Kleist auch als ``Involutionsparanoia'' bekannt war, da er Schwierigkeiten in der Abgrenzung der Begriffe sah.\footnote{\cite[S.~341]{albrecht1914}; \cite[]{kleist}} Georg Eisath berichtet 1914 über Fälle von ``Paranoia, Querulantenwahn and Paraphrenia'' und fasst dort akribisch Kraepelins ``Münchner Schule'' zusammen, um ihr in einem grundlegenden Punkt zu widersprechen: wie andere Kritiker*innen schlägt er vor, zumindest die ``systematische Paraphrenie'' bei der Paranoia zu belassen, weil sie oft nicht mit ``Verblödung'' einhergeht und andererseits von der ``Paranoia simplex und hallucinatoria'' kaum abzugrenzen sei.\footcite[S.~70ff]{eisath} Mayer rekapituliert Kraepelins Systematik und findet unter 78 Fällen, die er unter die ``Paraphrenien'' einordnet 45 mit ``Paraphrenia systematica'', 13 mit ``Paraphrenia expansiva'', 11 mal ``Paraphrenia confabulatoria'' und diagnostiziert bei 9 ``Paraphrenia phantastica''.\footcite[191]{mayer} % TODO: "1915 sprach sich Krambach ebenfalls gegen die Trennung aus" % Bumke, Kehrer, Fischer Auch Fischer und Jaschke verweisen 1931 unter anderem auf Eisath und Mayer. Aufgrund von Messungen des ``Grundumsatzes'' und der ``spezifisch-dynamischen Eiweißwirkung'' sehen sie bei fünf Fällen von Paraphrenie eine deutliche Abgrenzung zu Paranoia und Schizophrenie.\footnote{\cite[795f]{fischerjaschke}; \cite[]{eisath}; \cite[]{mayer}} Kolle verwendet den Begriff ebenfalls 1931, ohne jedoch eine besondere Präferenz dafür zu zeigen --- im Gegenteil spricht auch er den Klassifikationssystemen der Zeit die Trennschärfe ab: \begin{quote} ``Alle lehrbuchmäßigen Überlegungen lassen uns unbefriedigt. Eine Dementia praecox, auch in der weiteren Fassung Schizophrenie, eine Paraphrenie oder Paranoia im Sinne yon Kraepelin, das alles müßten wir bei strenger Anwendung der Begriffe ebenso ablehnen wie etwa eine Involutionsparanoia oder eine der neuerdings von Kleist beschriebenen Formen yon Degenerationspsychose. Lassen wir jedoch unsere mangels biologiseher Kennzeichen ohnedies unerfüllbaren klassifikatorischen Wünsche zurücktreten hinter der bescheideneren und vorerst fruchtbareren Forderung, Typen zu umreißen und deren einzelne Aufbaufaktoren (Birnbaum) mit einer mehrdimensionalen Diagnostik (Kretschmer) zu erfassen, so füllt sich auch der einzelne `Alltagsfall' wieder mit neuem Leben. In diesem Sinne möchten wir unsere Bemühungen aufgefaßt wissen.''\footcite[S.~12]{kollep} \end{quote} Manfred Bleuler stellt schließlich 1943\footcite[S.~263]{bleulerm1943} eine Systematik der ``Spätschizophrenien'' auf, in der auch ``Paraphrenie'' (nach Kraepelin) und Involutionsparanoia (nach Kleist\footcite[]{kleist}) erläutert werden. Nach Manfred Bleulers Überblicksartikel über Schizophrenie 1943 herrschte Einigkeit über die Bezeichnung dieser Seite der endogenden Psychosen. Wie allerdings Kay und Roth 1961 schrieben, war die Kraepelinsche Methodik nicht unumstritten. Diese versuchte, Geisteskrankheiten einzuteilen in ``organische'' und ``funktionale'', also nicht auf eine hirnorganische Störung zurückzuführende. Da ein körperliches Substrat aber von außen nicht unbedingt ersichtlich war, wurde auf Grund von psychologischen Symptomen diagnostiziert, was zu Ambiguitäten führen konnte: \begin{quote} ``All classificatory systems in psychiatry have serious shortcomings which are inevitable at the present stage of development of knowledge. The weakness of the Kraepelinian system, which forms the basis of most classifications, is that it is based upon two principles. According to one, mental disorders are divided on the basis of certain psychological symptoms and signs into ``organic'' and ``functional'' categories; according to the other, division into the same two categories depends on the presence or absence of structural disease, whether cerebral or somatic. This dual system leads to ambiguities which deserve careful analysis.''\footcite[p.~669]{kayroth} % $[$...$]$ \end{quote} Kay und Roth beschreiben in ihrem Werk über Spätschizophrenie 1961 die Unschärfe in der Nomenklatur und den Zusammenhang zwischen den Diagnosen Paraphrenie, Paranoia und Schizophrenie, besonders in Bezug auf die klinische, prognostische und genetische Kriterien. Entsprechend der in Europa und UK üblichen Praxis würde die Paraphrenie im besonderen für Störungen des vierten und fünften Lebensjahrzehnts verwendet, bei denen chronische Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen bestehen, aber keine affektiven Willens- und Denkstörungen. Die Abgrenzung von der Schizophrenie erfolgt durch Abwesenheit der typischen [negativen] Symptome, von der Paranoia durch dort systematischere Wahrnehmungsstörungen ohne Halluzinationen. Im weiteren Verlauf verschwinden diese Unterschiede aber oft, sodass auch mildere Formen bereits als Schizophrenie diagnostiziert würden.\footcite[p.~649]{kayroth} Ebenso im Jahr 1961 publiziert auch Wolfgang Klages auf Grund seiner klinischen Arbeit an der Medizinischen Akademie Düsseldorf sein Werk ``Die Spätschizophrenie'' und empfiehlt die Verwendung dieses Begriffs anstatt ``Paraphrenie'' auf Grund der breiteren Definition und mangelhafter Abgrenzung.\footcite[S.~2]{klages}. % TODO: Klages andere Begriffe \footcite[S.~1ff]{klages} Zapotoczky and Fischhof von der psychiatrischen Klinik an der Universität Graz bieten einen Blick aus neuerer Sicht in ihrem ``Handbuch der Gerontopsychiatrie'' 1996. Sie weisen bei der als Alterserkrankung vorgestellten ``Paraphrenie'' auf die fehlende neuroanatomische Abgrenzung hin und beschreiben Risikofaktoren (Alter, Genetik, Infektionen) ähnlich anderen schizophrenen Erkrankungen und empfehlen Neuroleptika und eventuell supportive Psychotherapie. Mangels klarer Diagnosekriterien merken sie an, dass vom Gebrauch des Terminus abgeraten wird.\footcite[S.~298ff, S.~293]{zapotoczky} % TODO: welche Lempa and Troje wiederum fokussieren 2010 eine Sammlung von Aufsätzen auf die geschichtliche Relevanz von Kraepelins Psychosenlehre für die psychoanalytische Methode.\footcite{psychosenkonzepte1kraepelin} % TODO % TODO: eigenes Kapitel? Wird bereits hier in ICD/DSM angerissen % Kraepelins Enfluss auf die moderne Psychiatrie nach Jablensky\footcite[]{jablensky} % \subsubsection{Verwendung von Paraphrenie in Publikationen und Diagnosemanualen nach dem zweiten Weltkrieg} Während DSM-III und ICD-9 noch Definitionen und Codes für einige paraphrenische Syndrome enthalten (295.3, der paranoide Typ der Schizophrenie inkludiert paraphrenische Schizophrenie\footcite[p.~451]{dsmiiir}, und Paraphrenie findet Eintrag als Unterpunkt 297.2 bei den paranoiden Zuständen\footcite[p.~451]{dsmiiir}), wird in ICD-10, obwohl es keine eigenen Punkte mehr sind, durchaus noch auf die paraphrenen Diagnosen im Text hingewiesen, bei DSM-IV fehlt jede Erwähnung des historischen Begriffs: 297.2 wurde ersatzlos gestrichen, 297.1 (Paranoia\footcite[197]{dsmiiir}) umorganisiert als wahnhafte Störung (``Delusional Disorder''\footcite[p.~296ff]{dsmiv}). In neueren Publikationen ist der Begriff selten zu finden, obwohl er nicht völlig aus dem Sprachgebrauch verschwunden ist. Zapotoczky und Fischhof merken an, dass die Diagnosekriterien diagnostisch nicht trennscharf genug sind und an mehreren Stellen vom Gebrauch abgeraten wird.\footcite[S.~293]{zapotoczky} In aktuellen Diagnosesystemen sehen sie Kraepelins ``Paraphrenie'' in zwei unterschiedlichen nosologischen Bereichen: einerseits eine affektvolle Form, die sie nach Leonhard als eng verwandt mit den ``zykloiden Psychosen'' und Kraepelins ``systematischer Paraphrenie'' beschreiben, andererseits eine affektarme Form, die am ehesten als leichte Form einer ``paranoiden Schizophrenie'' nach Eugen Bleuler einzuordnen wäre.\footcite[S.~294]{zapotoczky} % In der Pubmed-Datenbank etwa sind in den Jahren 1940 bis 1950 zu ``paraphrenia'' 3 Publikationen zu finden, 23 1951 bis 1960, 16 1961 bis 1970, 23 1971 bis 1980, 38 1981 bis 1990, 48 1991 bis 2000, 25 von 2001 bis 2010 und 11 2011 bis 2020 (siehe Abb.~\ref{fig:pubmed}). Von den 188 beschäftigen sich 129 explizit mit ``late paraphrenia''. Im Vergleich dazu sind zu ``schizophrenia'' alleine im letzten Zeitraum über 55.000 Publikationen zu finden. In der Pubmed-Datenbank etwa sind in den Jahren 1945 bis 1950 zu \texttt{paraphrenia[All Fields] OR paraphrenic[All Fields]} 6 Publikationen zu finden, 32 1951 bis 1960, 27 1961 bis 1970, 37 1971 bis 1980, 46 1981 bis 1990, 54 1991 bis 2000, 30 von 2001 bis 2010 und 16 2011 bis 2020. Von den 248 beschäftigen sich 59 explizit mit ``late paraphrenia''. Im Vergleich dazu sind zu ``schizophrenia'' alleine im letzten Zeitraum über 55.000 Publikationen zu finden (siehe Abb.~\ref{fig:pubmed}). 29 von den Artikeln haben einen historischen Bezug (\texttt{history[All Fields] OR historic[All Fields] OR historical[All Fields]}). \begin{figure} \begin{tikzpicture} \begin{axis} [ybar,width=0.8\textwidth,height=0.4\textwidth,xtick = data, xticklabel style={text width=1cm}, bar width=1cm, xticklabels={ 1945-\\1950, 1951-\\1960, 1961-\\1970, 1971-\\1980, 1981-\\1990, 1991-\\2000, 2001-\\2010, 2011-\\2020 }] \addplot coordinates { (0,6) (1,32) (2,27) (3,37) (4,46) (5,54) (6,30) (7,16) }; \legend {Treffer}; \end{axis} \end{tikzpicture} \caption{Pubmed-Einträge zu ``paraphrenia''}\label{fig:pubmed} \end{figure} \subsection{Gender und Paraphrenie} \label{ch:genderparaphrenie} Eine detaillierte Analyse der ``Gender-Specific Medicine'' wie bei Marianne J. Legato\footcite[]{legato} ist im historischen Kontext meist nicht zu finden. In einigen Fällen sind aber zumindest Statistiken und Beobachtungen zu Krankheitsinzidenzen nach Geschlechtern aufgelistet. Aufschlussreich wäre vermutlich auch in Bezug auf die beobachtete Symptomatik eine Aufarbeitung des zugrunde liegenden Frauenbildes im Rahmen der Gender Studies. Kahlbaum selbst äußert sich nicht zum Geschlechterverhältnis bei den ``paraphrenen'' Krankheitsformen, beschreibt aber 1878 für die jugendliche Form der ``Hebephrenie'' Unterschiede in den Symptomen, und diagnostiziert bei weiblichen Kranken überwiegend eine sexuelle Komponente (``Nymphomanie, Erotomanie''), bei den männlichen Betroffenen mehr Albernheit und Altklugheit, in seinen Worten ``das Urbild des ewigen Quartaners Karlchen Miessnick''.\footcite[1144]{kahlbaum1878} Kraepelin sieht zu etwa 60 \% männliche Patienten betroffen. Er beschreibt bei der ``Paraphrenia systematica'', dass die Patientinnen ``merken, daß man sie in ihrer Geschlechtsehre schädigen, sie verführen, zu Verfehlungen veranlassen will'' und spüren ``Empfindungen, Zupfen in den Genitalien, fühlen sich geistig begattet.'' Einen ``erotischen Größenwahn'' findet er ausschließlich bei weiblichen Kranken. Die ``expansive'' Form diagnostiziert er überwiegend bei Frauen zwischen 30 und 50.\footcite[S.~977f, S.~996, S.~1000]{kraepelin8} Meynert führt bei der Hebephrenie keine solchen Beobachtungen an, bei der Paranoia sieht er ``zweifellos'' vor allem Frauen betroffen, was er zum Teil auf die erhöhte Inzidenz im Klimakterium zurückführt.\footcite[206]{meynertvo} Kleist diagnostiziert seine ``Involutionsparanoia'' 1913 zu etwa 90 \% überwiegend bei Frauen, er äußert die Vermutung, dass diese Psychosen durch eine ``psychogene Reaktion'' auftreten könnten. Er beschreibt etwa ``ledige oder vom Manne verlassene oder verwitwete Frauen'', bei denen er Existenzängste beobachtet. Kehrer und Kretschmer berufen sich ebenfalls auf Kleist\footnote{\cite[S.~33, S.~42f, S.~64]{kleist}; \cite[S.~137]{kehrerkretschmer}} Bei Mayer tritt die ``Paraphrenia systematica'' etwas häufiger beim weiblichen Geschlecht auf, die ``Paraphrenia expansiva'' ebenso wie ``confabulatoria'' ähnlich Kraepelin, dessen Systematik er übernimmt, fast ausschließlich bei Frauen zwischen 40 und 60. Seine 9 Fälle von ``Paraphrenia phantastica'' findet er im Gegensatz dazu vorwiegend bei Männern.\footcite[S.~193ff, S.~202]{mayer} Klages berichtet, dass bei Manfred Bleuler 1943 die 62 Frauen gegenüber 32 Männern überwiegen, Knolls Studie hat ebenfalls 62 Frauen und nur 21 Männer.\footcite[S.~12]{klages} Bei Kay und Roth ist der Überhang noch deutlicher, unter 42 Patient*innen mit ``late paraphrenia'' sind nur 3 männlichen Geschlechts.\footcite[p.~651]{kayroth} Nach Legato tritt die Schizophrenie mit gleicher Prävalenz unabhängig vom Geschlecht auf, in jüngeren Jahren eher bei Männern, postmenopausal stärker bei Frauen. Die Paraphrenie kommt in dem Werk nicht vor.\footcite[p.~139]{legato}