\section{Der Einfluss der Neuen Wiener Schule und Theodor Meynerts auf die Nomenklatur der endogenen Psychosen} \label{ch:meynert} In diesem Kapitel sollen mögliche Beziehungen zwischen der Wiener Psychiatrie im 19.~Jahrhundert, besonders zu Zeiten Theodor Meynerts, und der Entwicklung von Nosologien und Klassifikationssystemen gesucht werden, besonders in Bezug auf die Protagonist*innen Kahlbaum, Freud und Kraepelin, aber auch die früheren französischen Quellen. Carl Freiherr von Rokitansky (1804 -- 1878) war seit den 1830ern für seine Methoden der Nosologie und Diagnose bekannt, die auch als ``Neue Wiener Schule'' oder ``Junge Wiener Schule'' bezeichnet wurden.\footcite[Bd. 9 S. 221]{oebl} Er war beeindruckt von Theodor Meynerts (1833 -- 1892) Hirnschnitten, anhand derer dieser Nervenbahnen verfolgte und später seine Lokalisationstheorie entwickelte. Meynert arbeitete nach Medizinstudium und Promotion 1861 in Wien. Rokitansky schuf für ihn eine Prosektorenstelle, 1865 wurde Meynert erst Privatdozent für Hirnforschung, danach Sekundararzt an der 1853 gegründeten Wiener Irrenanstalt. 1868 wurde er auch Dozent für Psychiatrie, 1870 bekam er die außerordentliche, 1873 die ordentliche Professur für Psychiatrie. Ein Jahr später wurde er Primar an der auf Betreiben von Rokitanksy neuerrichteten Klinik für Psychiatrie --- quasi als Belohnung für seine Treue zur Rudolphina, weil er einem Ruf nach Zürich nicht gefolgt war.\footcite[S.~125ff]{kirchhoffdi2} 1875 erlangte er die Leitung über die II.\,Psychiatrische Klinik, die aus der ``Beobachtungsstation für des Irrseins Verdächtige Personen'' hervorgegangen war. Diese war ursprünglich nicht für Meynerts Herkunftsdisziplin Neurologie zuständig, erst 1886 bekam er die Abteilung für Nervenkranke dazu. Sarah Elstner beschreibt an Hand von Meynerts Karriere eine österreichische Widerspiegelung des deutschen Konfliktes zwischen Anstalts- und Universitätspsychiatrie, hier in Kapitel \ref{ch:anstalt} thematisiert.\footcite[70]{elstner} % TODO: mehr von Sarah Auch Meynerts Zugang zu Wissenschaft und Kultur war ein offener, er pflegte viele Freundschaften und Beziehungen zu Künstler*innen und Wissenschaftler*innen. Der Neurologe Carl Wernicke (1848 -- 1905) zählt etwa zu seinen einflussreichsten Schüler*innen.\footnote{\cite[70]{elstner}; \cite[238ff]{kirchhoffdi2}} % TODO: Kraepelin -- Lokalisationstheorie?, Kahlbaum Sigmund Freud war bei Theodor Meynert in den Jahren 1882 bis 1885 in verschienen Bereichen tätig, unter anderem 1883 als Sekundararzt an der Universitätsklinik für Neurologie.\footcite[S.~39]{barth} Er war also mit dessen Werk wohlvertraut, wies jedoch etwa die Lokalisationstheorie bereits 1891 in ``Zur Auffassung der Aphasien'' nicht nur zurück, sondern bezeichnet ihn sogar als ``thronenden Götzen'' und schreibt in einem Brief an Martha Bernay, dass mit seinem vormaligen Lehrer nicht auszukommen sei. Barth sieht in seiner Dissertation ``Wer Freud Ideen gab'' lediglich einen deutlichen Einfluss von Meynert auf Freuds Zugang zur vergleichenden Anatomie.\footcite[S.~83ff,91,302]{barth} Die Antipathie war offenbar nicht wechselseitig, Dora Stockert-Meynert schreibt 1930 wohlwollend, dass ihr Vater das Genie Freuds erkannte, obwohl dieser sich in eine andere Richtung entwickelte.\footcite[S.~47]{stockertmeynert} Das bereits in der Einleitung (S.~\pageref{wienerquartett}) erwähnte ``Wiener Quartett'' (Marie Bokowa, Auguste Forel, Susan Dimock und Carl Eugen Hoestermann) fand sich 1871 ebenfalls an der Fakultät für Medizin zusammen. Einen direkten Zusammenhang mit der Psychiatrie konnte ich nicht finden, aber zumindest Forel und Hoestermann waren zu der Zeit an Meynerts Klinik als Assistenten tätig,\footcite[S.~395]{averbeck} ersterer zählt zu seinen bekannteren Schüler*innen. Dimock war nach dem Studium in Paris für ein Kliniksemester in Wien, Forel und Bokowa hatten einander bei einer ``Expedition'' als Sanitäter*innen im deutsch-französischen Krieg kennengelernt.\footcite[55f]{forelbio} Auguste Forel bittet Meynert 1876 um ein Arbeitszeugnis für die Assistenzstelle, die er 1871 -- 1872 innehatte, und teilt ihm mit, dass er sich wissenschaftlich distanziert, was die freundschaftliche Beziehung nicht stört, etwas später schickt er ihm ein Beleuchtungsstativ und widmet ihm sogar seine Dissertation.\footnote{\cite[S.~255ff]{stockertmeynert}; \cite[40]{wetley_forel}} % Meynert -- Psychiatrie. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns begründet auf Dessen Bau, Leistungen und Ernährung % TODO: Stigma der Neuroanatomie % TODO: Lokalisationstheorie In seinem neurologischen Lehrbuch ``Psychiatrie. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns begründet auf Dessen Bau, Leistungen und Ernährung'' von 1884 bezieht sich Meynert fast ausschließlich auf seine neuroanatomischen Forschungen und beschäftigt sich nicht mit der Klassifikation psychiatrischer Krankheiten. Klinik und (vorwiegend neuroanatomische) Krankheitsbilder handelt er auf den letzten 25 Seiten ab.\footcite[S.~263]{meynertpsychiatrie} 1890 verfasst er jedoch zeitgemäß ein psychiatrisches Lehrbuch, das unter anderem das ihm zugeschriebene Konzept der ``Amentia'' von der Paranoia abgrenzt. Er macht kein Hehl daraus, dass er von der ``unbefangene[n] klinische[n] Beobachtung'' nur ``Erdichtungen'' erwartet und nennt in diesem Zusammenhang unter anderem Kahlbaum und Kraepelin.\footcite[S.~V]{meynertvo} Zumindest ersteren hat er allerdings nicht nur gelesen, sondern verwendet teilweise auch dessen Nomenklatur (``Chaeromanie'', ``Katatonie'') und zitiert Kahlbaums Meinung zur Vererblichkeit der ``Amentia'' (bei Kahlbaum wohl analog dem ``Stadium defecti''), ohne allerdings genauer auf die Klassifikation einzugehen. Von einem anderen seiner Schüler*innen, dem bereits erwähnten Hirnforscher Carl Wernicke, wird berichtet, dass er in seinen Vorlesungen kaum auf andere verwies -- mit zwei Ausnahmen: seinem Lehrer Theodor Meynert und Karl Ludwig Kahlbaum, dessen ``Hebephrenie'' er als ``Defektzustand'' zeitweilig auch in der Klinik verwendete.\footnote{\cite[245]{kirchhoffdi2}; \cite[40]{elstner}; \cite[S.~216]{wernicke1906}} Auch Kahlbaums ``Presbyophrenia'' wurde von Wernicke aufgegriffen. Dieses Krankheitsbild wird auch ``Paraphrenia senilis'' genannt, also die ``Paraphrenie'' des Alters. Wernicke definiert fünf Psychosen aus äußeren Einflüssen: ``Delirium tremens'', ``Korsakoff-Syndrom'', ``Presbyophrenie''\footcite[pp.~163, 216, 276f, 284, 290ff, 442, 480ff]{wernicke1906}, akute und chronische Halluzinationen und pathologische Trunksucht. Wie er in den ``Vorlesungen'' auch erläutert, geht es dabei zu einem überwiegenden Teil um Psychosen im Zusammenhang mit Alkohol.\footcite[465]{wernicke1906}. Eine enge Verwandtschaft sah er auch zur ``polyneuritischen Psychose''. Später erlangte die ``Presbyophrenie'' auch als ``Wernicke-Kahlbaum-Syndrom'' eine gewisse Bedeutung, verschwindet aber im weiteren 20.~Jahrhundert wieder aus dem unmittelbaren Vokabular der Psychiatrie.\footcite[268]{berrios} Meynerts Lehre kann nach diesen Recherchen nicht direkt mit der Klassifikationsgeschichte der endogenen Psychosen, ``Dementia praecox'' und ``Paraphrenie'' in Beziehung gebracht werden. Er kannte jedoch Kahlbaums Lehre, und seine Lehrtätigkeit und sozialen Kreise sind aus der Geistesgeschichte, Psychiatrie und Hirnforschung des 19.~Jahrhunderts nicht wegzudenken. Sein Einfluß spiegelt sich in den Werken vieler seiner Schüler*innen wider. So verwendete Wernicke, der Meynert sein Leben lang verehrte und seinen Einfluss hochhielt, etwa Teile von Kahlbaums Nomenklatur, was zumindest einen indirekten Bogen zu dessen ``Paraphrenie'' schließt.