\section{Paraphrenie im historischen Kontext} \label{ch:paraphrenie} \subsection{Herkunft und Verwendung des Begriffs der Paraphrenie vor Kahlbaum} \begin{quote} ``L'acte de rire, de pleurer, de chanter, de danser, de se livrer à un mouvement quelconque, peut, comme il a été dit, tenir à une simple exaltation mentale; mais ces déterminations, en d'autres cas, perdent le caractère d'hyperphrénie, qui n'est que l'exagération des actes naturels, pour passer au mode fantastique, mode qui constitue la {\em paraphrénie}, l'aberration de ces déterminations proprement dite. Dans l'exaltation de l'instinct de convoitise, par exemple, le malade fait des provisions, il y a une certaine combinaison d'esprit dans ses vols; ce sont des alimens, des objets de valeur qu'il a en vue, procédé dans lequel il met souvent beaucoup de ruse et de finesse: mais l'avare fantasque remplit ses poches de loques, de petites pierres, d'écailles d'huîtres, de moules, etc. Dans le premier cas, l'instinct est encore guidé par une combinaison intellectuelle, l'individu attache du prix a tel ou tel objet, tandis que l'acte, chez le fantastique, est aveugle, automatîque. Souvent l'aliéné refuse de manger chaque fois qu'on lui présente des alimens; il les dévore dès qu'il peut les voler.''\footcite[S.~225]{guislain1833} (Hervorhebung d.~d.~Verf.; Eigene Übersetzung: Das Lachen, Weinen, Singen, Tanzen, die Bewegung kann eine einfache geistige Erbauung darstellen; aber die selben Wahrnehmungen verlieren in anderen Fällen den Charakter einer Hyperphrenie, einer Übertreibung natürlicher Gefühle, und gehen in einen Modus der Phantasie über, der einen Ausdruck der {\em Paraphrenie} darstellt und damit bereits eine Störung im eigentlichen Sinn. Bei einer Überhöhung der Gier beispielsweise legt die Kranke Person mit Bedacht Vorräte an, das können Lebensmittel oder in ihrer Wahrnehmung Wertgegenständen sein, zu deren Erlangung Tricks und Finesse verwandt werden: aber der verwirrte Geizkragen füllt die Taschen mit Lumpen, mit Steinchen, Schalen von Muscheln und Austern, etc. Im ersten Fall ist der Instinkt dem Verstand untergeordnet, der Mensch bewertet dieses oder jenes Objekt, während beim Fantastischen das Agieren blind und automatisch ist. Oft weigert sich die kranke Person, die angebotene Nahrung zu essen und verschlingt nur, was sie stehlen konnte.) \end{quote} Etymologisch leitet sich das Wort Paraphrenie von griechisch \textgreek{παρά} (para) neben, bei, gegenüber und \textgreek{φρήν} (phren) Zwerchfell, im übertragenen Sinne auch Sitz der Seele, ab.\footcite[S.~569, 793]{gemoll} Eine Verwendung des ähnlichen Begriffs der Paraphrenitis an deutschen Universitäten ist bereits im 18. Jahrhundert belegt, wie eine Suche im Onlinekatalog der Nationalbibliothek belegt: nicht weniger als vier Dissertationen nennen die ``paraphrenitis'' zwischen 1741 und 1822 im Titel, allerdings geht es dabei nicht um psychiatrische Phänomene, sondern um Entzündungen des Zwerchfells bzw. der Pleuren.\footnote{\cite[]{heim}; \cite[]{schulze}; \cite[]{acqua}; \cite[]{segner}} Ein sachlicher Zusammenhang ist also unwahrscheinlich. Einen direkten Einfluss hatte aber die Verwendung im französischen Sprachraum, besonders beim Belgier Joseph Guislain (1797 -- 1860), der die ``paraphrénie''in seinen Schriften über die ``Phrenopathien'' ab 1833 als ``folie'', also ``Verrücktheit'' in damaliger Diktion einordnet.\footcite[S.~221, 243ff, 300, 340]{guislain1833} Neben der bereits ausgeführten griechischen Etymologie erwähnt er auch explizit den deutschen Begriff ``Narr''. In seinem Abriss über den Stand des ``Irrenwesens'' von 1826 kommt die Paraphrenie noch nicht vor.\footcite[]{guislain1826} Zur ``Folie'' oder gräzistisch ``paraphrénie'' erklärt er die umgangssprachliche französische Bedeutung, die für ihn Originalität und einen ``bizarren'' Charakter mit ``Tics'', Eigenheiten und ``caprices'' beinhaltet. Im obigen Zitat beschreibt er den oft feinen Unterschied zwischen einer geistigen Erhebung (``hyperphrénie'') und der schon als Störung zu wertenden ``paraphrénie'', die sich im Gegensatz zu den ``natürlichen'' Handlungen des Lachens, Weinens etc. in ``fantastischen'' oder ``skurrilen'' Verhaltensweisen äußert. Er nennt dazu etwa einen stark übersteigerten Sammeltrieb objektiv wertloser Gegenstände oder die Verweigerung der Nahrung bei freier Verfügbarkeit, aber einem Drang, diese zu stehlen und zu verschlingen. Alles in allem ist seine ``paraphrénie'' im Vergleich zu anderen Erkrankungen durch Ruhe gekennzeichnet.\footcite[S.~246]{guislain1833} Ein bestimmtes Lebensalter assoziiert der Belgier nicht mit der ``paraphrénie'', was bei Kahlbaum und (siehe \hyperref[ch:ausblick]{Kapitel~\ref{ch:ausblick}}) später auch im 20.~Jahrhundert stets zu finden ist, wenn auch nicht bei Kraepelin. Er verwendet den Begriff zumindest bis in die 1850er.\footcite[]{guislain1852_1} % nur im ersten Band -- $^,$\footcite[]{guislain1852_2}$^,$\footcite[]{guislain1852_3} George Fielding Blandford (1829 -- 1911) beschreibt Guislains Einteilung 1871 in seinem Lehrbuch im Kapitel über historische Nomenklatur und erwähnt auch die ``paraphrénie'', ohne jedoch näher darauf einzugehen.\footcite[S.~108]{blandford} % https://archive.org/details/insanityitstreat00blan/page/108/mode/2up?q=paraphrenia \subsection{Paraphrenie bei Karl Ludwig Kahlbaum}\label{ch:kahlbaumparaphrenie} \begin{quote} ''Wenn irgend ein Satz in seiner Wahrheit durch die Geschichte der Wissenschaften erklärt wird, so ist es der, dass man keiner Beobachtung ansehen kann, welche Wichtigkeit sie in der Folge haben werde, dass oft die anfangs unbedeutend scheinenden, zufällig oder absichtlich weiter verfolgten Beobachtungen zu den grössten Bereicherungen der Wissenschaft und der Praxis geführt haben. Daraus hat sich die Regel gebildet, dass der Naturforscher ohne Rücksicht auf die augenblickliche Verwerthung beobachten soll.''\footcite[S.~68]{kahlbaum} \end{quote} In seiner ``Gruppirung der psychischen Krankheiten'' versucht Kahlbaum wie in \hyperref[ch:kahlbaumzeit]{Kapitel~\ref{ch:kahlbaumzeit}} nach Katzenstein \footcite[]{katzenstein} beschrieben das nosologische Konzept der Einheitspsychose nach Zeller\footcite[S.~128]{engstrominstruction} und von Neumann zu erweitern und aufzubrechen. Diese ist ursprünglich durch eine Abfolge von Melancholie, Manie, Verwirrtheit und ``Blödsinn'' gekennzeichnet, deren Progression durch psychiatrische Intervention beeinflusst werden kann. Neumanns Modell, das er von der progressiven Paralyse ableitet, beschränkt sich auf drei Stadien {\em Wahnsinn}, {\em Verwirrtheit} und {\em Blödsinn}\footcite[S.~113f]{henseler}. Henseler weist bereits einige Jahre vor Katzenstein außerdem darauf hin, dass Neumann nicht prinzipiell eine ``Classifikation der Geisteskrankheiten'' für unmöglich erklärt, sondern lediglich erst einmal darauf verzichtet, um Fehler zu vermeiden.\footcite[S.~115]{henseler} Dabei zeigt er auf Grund seiner Praxis auf, dass die vier Stadien nicht bei allen ``Irren'' vorhanden sind, also auch ``spätere'' Stadien ohne Vorhergehen der früheren auftreten können. Kahlbaum legt großen Wert darauf, Zustandsformen und Krankheitsbilder zu trennen. Beispielsweise beschreibt er ein der ``Einheitspsychose'' vergleichbares Krankheitsbild als ``Vesania typica'', welche wiederum als Abfolge von ``Stadium incrementi vesaniae typicae'', mit melancholischen Zügen, ``Stadium acmes'' unter Ausbildung einer Manie, dem durch Verrücktheit gekennzeichneten ``Stadium decrementi'' und dem Endpunkt des ``Stadium defecti'', das Zeitgenoss*innen auch als ``Blödsinn'' beschreiben würden. Zusätzlich zu der auf die ``Einheitspsychose'' zurückgehenden ``Vesania typica'' beschreibt er in seinem Lehrbuch sodann vier andere Gruppen von Geistesstörungen, von welchen die vierte und letzte als jene der ``Paraphrenien'' ausgewiesen ist. Diese Gruppe beobachtet er nur in Zeiten altersgemäßer geistiger Veränderung, also in der Jugend und im Alter: \begin{quote} ``[...] Nehmen wir nun zu dieser Aneinanderreihung noch die bekannte Beobachtung hinzu, dass die Zeit der Pubertätsentwickelung bei den meisten Menschen wie mit körperlichen Revolutionen so auch mit gewissen auffälligeren Alterationen in der Sphäre des Seelenlebens verbunden zu sein pflegt, so wird man uns gestatten, diese ganze Gruppe als diejenige Form der Seelenstörung zu bezeichnen, welche im Anschlusse an einen der physiologisch begründeten Wechselzustände der gesammten Lebensentwickelung entsteht und in den entsprechenden organischen Verhältnissen ihren Grund und Boden findet; und diese ganze Gruppe will ich {\em Paraphrenia } nennen. Diese Gruppe zerfällt also zunächst in die beiden angedeuteten Gattungen der {\em Paraphrenia pubertatis}, s. {\em adolescens}, s. {\em hebetica}, wofür ich zum substantivischen Gebrauch das Wort {\em Hebephrenia } bilden möchte, und der {\em Paraphrenia senilis } mit dem entsprechenden Substantiv {\em Presbyophrenia}.''\footcite[S.~129]{kahlbaum} \end{quote} Zuerst nennt er in der Reihe der paraphrenen Zustände auch noch bestimmte Störungen des Schlafes: \begin{quote} ``An diese Fälle, in physiologischen Zuständen begründeter Seelenstörungen dürften sich aber ferner für Forscher, welche das Nachtwandeln und ähnliche Erscheinungen unter die Seelenstörungen setzen wollen, als {\em psychische Störungen des Seelenzustandes im Tageswechsel } eine {\em Paraphrenia hypnetica } oder { \em Hypnophrenia } anreihen, welche einmal das wirkliche Nachtwandeln (als { \em Hypnophrenia ambulatoria}) umfasst, dann aber auch krankhafte Traumzustände (z. B. den sogenannten Alp) und endlich besonders jene Fälle, in welchen übrigens seelengesunde Menschen durch plötzliches Erwecken aus tiefem Schlafe in einen sinnlosen Zustand versetzt und zu wahnsinnigen Handlungen hingerissen werden ({\em Hypnophrenia agitans}), wie solche Fälle von glaubwürdigen und in der Psychiatrie hochgeachteten Männern erzählt werden.''\footcite[S.~129f]{kahlbaum} \end{quote} Auf diese nächtlichen Störungen verzichtet er allerdings in der 1878 publizierten Übersicht.\footnote{\cite[23]{katzenstein}; \cite[]{kahlbaum1878}} Auch Karl Jaspers beruft sich kurz auf die Jugendform von Kahlbaums Paraphrenie und erwähnt, dass die Hebephrenie und die Katatonie in Kraepelins ``Dementia praecox'' seien.\footcite[S.~260]{jaspers1913} In der zweiten Auflage führt er unter ``Historisches'' Kahlbaums Erbe in Kraepelins Werk an: ``Andererseits ging die groesste Wirkung von {\em Kraepelin} aus, der seine auf {\em Kahlbaum} fußende Idee der Kankheitseinheit mit ungewöhnlicher Energie vertrat.''\footcite[2. Auflage S. 409]{jaspers1920} Wie ebenfalls in Kapitel~\ref{ch:kahlbaumzeit} beschrieben war Kahlbaum zu seiner Zeit kein großer Ruhm beschert. Katzenstein führt dies auf mehrere Faktoren zurück: er nennt die umständliche Sprache, die neue griechische Terminologie und den Mangel an praktischen Beispielen. Engstrom weist zusätzlich auf Henseler hin, der den Briefwechsel zwischen Kahlbaum und Heinrich Neumann zitiert. Neumann, der als Lehrer Kahlbaums ebenfalls ein Lehrbuch herausgegeben hat, hat ein ähnliches Problem mit seinem eigenen Werk, er sieht die Verantwortung beim Publikum, das nicht nur schöner geordnete Bücher verlangt, sondern sich vor allem an (Griesingers) hohlen Phrasen % (Engstrom: ``empty phrases and pretty rhetoric'') orientiert.\footcite[S.~133 FN 44]{engstrominstruction}. Allerdings hat der kompakte Stil ohne praktische Fallbeispiele auch seine Anhänger*innen. Neumann merkt im ``Leitfaden'' von 1883 im Gegensatz zu dem älteren Buch Griesingers von 1859 an, dass für ihn Krankengeschichten nicht in Lehrbücher, sondern in ``Materialiensammlungen'' gehören, und auch dort nur solche als ``Novum'' ihren Platz haben, die nicht hinreichend durch das ``Lehrgebäude'' erklärt werden:\footnote{\cite[S.~5]{neumannpsych}; \cite[S.~20f]{henseler}} %\begin{quote} %{\em Kahlbaum} nennt es ``vortrefflich'' und sagt dem Autor ``tiefgefühlten Dank für die vielseitige Belehrung und Anregung'', doch wird das Buch nie maßgebend. %Neumann versucht 1883, eine Erklärung dafür zu finden. Er zieht die bekannte Rede {\em Helmholtz}s über den Zerfall der Universitas literarum herbei\footcite[S.~181]{helmholtznat} und meint, es zeuge von dem Geiste, der in der akademischen Jugend herrsche, daß sie nur nach ``hübsch registraturmäßig geordneten und systematischen'' Büchern wie das eines {\em Griesinger} greife, dessen Stil ``Phraseologie und Schönrederei'' sei und jedes originellen Gedanken entbehre. (Vorrede zum Leitfaden). %\cite[20f]{henseler} %\end{quote} \begin{quote} ``Das Buch [Griesingers] besticht durch die Regelmässigkeit in der Form. Es ist hübsch registraturmässig geordnet und macht einen systematischen Eindruck in einer Disciplin, die noch viel zu sehr in den Kinderschuhen steckt, als dass sie einer systematischen Darstellung fähig wäre. Ist dies aber der Fall, was wohl die Meisten zugeben werden, und wird dennoch eine systematische Darstellung versucht, so ist dies nur auf Kosten der Uebereinstimmung mit % sic der Natur, d. h. auf Kosten der Wahrheit möglich. Der Stil, in welchem das Buch geschrieben ist, erfreut sich einer grossen % sic Glätte und Gewandtheit, der aber jeden Anflugs von Originalität entbehrt und daher auf den Namen eines Stils keinen Anspruch erheben darf, vielmehr nur als Phraseologie oder Schönrednerei bezeichnet werden muss. Das Alles tritt recht klar hervor, sowie der Verfasser auf irgend einem Punkte angelangt, an dem eine bestimmte positive Entscheidung erwartet wird. Dann hört die Bestimmtheit auf und man stösst auf eine Phrase, die sich Jeder deuten kann, wie er Lust hat. Auf die Gefahr hin, von Vielen verketzert zu werden, behaupte ich, dass in dem ganzen Buche nicht ein origineller Gedanke ist, der zum Weiternachdenken reizt, und daraus erkläre ich mir auch die Erscheinung, dass es Griesinger nicht gelungen ist, eine Schule zu bilden und dass sich an ihn keine Literatur knüpft.''\footcite[IIIf]{neumannpsych} \end{quote} Im Weiteren streicht Neumann Kahlbaums Zugang zur Klassifikation lobend heraus. Er findet dessen griechische Nomenklatur (``Katatonie, Hebephrenie'') passend, widerspricht aber wie zu erwarten der These, dass die Einheitspsychose überholt und nur als typischer Fall interessant wäre, weil gerade der Regelfall wissenschaftlich am meisten interessiere und geht nicht weiter auf die Feinheiten von Kahlbaums System ein.\footcite[S.~54]{neumannpsych} Hermann Emminghaus verwendet Teile von Kahlbaums Lehre 1878, allerdings nicht in ihrer Gesamtheit --- die ``Vesania'' kommt nur als Zitat vor\footcite[278]{emminghaus}, ``Hebephrenie'' und ``Katatonie'' häufiger, jedoch gebraucht er auch Neumanns Begriff der ``Dementia paralytica''.\footcite[S.~268f]{emminghaus} Eine eindeutige Entscheidung für oder gegen die Einheitspsychose verweigert er aber und erklärt die Frage für nebensächlich.\footcite[S.~275]{emminghaus} % TODO: vergleich auflagen \subsection{Paraphrenie im weiteren 19.~Jahrhundert} \label{ch:paraphrenienachkahlbaum} Wie in \hyperref[ch:paraphrenienachkahlbaum]{Kapitel~\ref{ch:kahlbaumzeit}} beschrieben wird Kahlbaums Werk von 1863 stilistisch und vom Aufbau her bisweilen als schwierig empfunden.\footcite[S.~37ff]{katzenstein} Sein Einfluss auf die Psychiatrie der folgenden Jahrzehnte ist dennoch nicht zu bestreiten, neben der ``Hepephrenie'' als Jugendform seiner ``Paraphrenie'' wird vor allem die 1874 eingeführte ``Katatonie'' häufig zitiert. So nennt Meynert 1876 bei der basalen Meningitis Kahlbaums Katatonie als Symptom.\footcite[S.~5]{meynert} Die ``Presbyophrenia'' oder ``Paraphrenia senilis'', die ``Paraphrenie'' des Alters, erlangt später auch als ``Wernicke-Kahlbaum-Syndrom'' eine gewisse Bedeutung. Wernicke erwähnt neben der ``Presbyophrenie'' auch explizit die ``Hebephrenie'', eine Untergruppe der ``Paraphrenie'', als ``Defektzustand''\footcite[p.~216]{wernicke1906} Auch Heinrich Wilhelm Neumann, dessen Werk von 1853 Kahlbaum nachhaltig beeinflusste und den auch Wernicke sehr schätzte,\footcite[S.~20f]{henseler} streicht Kahlbaums Bedeutung 1883 heraus und geht dabei in einer Fußnote auf dessen ``Katatonie'' und ``Hebephrenie'' ein.\footcite[S.~54]{neumannpsych} Allerdings widerspricht er Kahlbaums Ansicht, dass ``atypische'' Fälle separat klassifiziert werden sollten, bleibt also im Wesentlichen bei der Ansicht, dass außer der bisweilen von selbst abheilenden ``Melancholie'' die auf S.~\pageref{neumannstadien} angeführten Stadien der ``Dementia paralytica'' einer unabänderlichen Reihenfolge unterliegen.\footcite[S.~53]{neumannpsych} Hermann Emminghaus würdigt Kahlbaums Nosologie in seinem Lehrbuch 1878 und sieht zwar von einer Verwendung der ``Paraphrenie'' ab, verwendet jedoch dessen Nomenklatur in weiten Bereichen, unter anderem auch die ``Hebephrenie'' und ``Katatonie''\footcite[S.~268f]{emminghaus} Ebenfalls 1878 erscheint Heinrich Schüles (1840 -- 1916) Werk. Er reproduziert zwar eine Kurzfassung von Kahlbaums Klassifikation, wo er auch die ``Paraphrenie'' nennt, geht jedoch nicht näher darauf ein.\footcite[S.~361]{schuele} Die ``Hebephrenie'' findet an anderen Stellen durchaus Erwähnung, er nennt sie auch ``pubische Verrücktheit'', ``Pubertätsirresein'' und in der Überschrift der Passage ``Das Irresein in der Pubertätszeit''.\footcite[S.~231ff]{schuele} Krafft-Ebing bedient sich der gleichen Sprache wie Schüle bezüglich der ``Hebephrenie'' und sieht sie vor allem als Folgeerscheinung von Überlastung,\footcite[163]{krafftebing} er wendet aber auch weitere Elemente von Kahlbaums Nomenklatur an, insbesondere diagnostiziert er auch ``Katatonie'' und ``Vesania typica''.\footcite[S.~109, S.~229, S.~395, S.~493]{krafftebing} Carl Dittmar (1844 -- 1920) % deutsche irrenaerzte ii S. 217 erwähnt Kahlbaum und seine Krankheitseinheiten in den publizierten ``Vorlesungen'' an keiner Stelle, Neumann einmal. Die ``Dementia paralytica'' findet wiederholte Erwähnung, und Dittmar scheint eine komplexe Theorie zur Entstehung und dem Fortschreiten von Erschöpfungszuständen auf Grund von Eiweißzersetzung entwickelt zu haben, für deren Ergründung hier jedoch nicht der Platz ist.\footcite[107]{dittmar} \subsection{Sigmunds Freuds Unzufriedenheit mit der Nomenklatur der endogenen Psychosen} \label{ch:freud} Sigmund Freud tritt in seiner Beschäftigung mit den Psychosen erstmals 1911 dafür ein, den von Kraepelin\footcite[S.~668]{kraepelin8} geprägten älteren Begriff der ``Dementia praecox'' durch ``Paraphrenie'' zu ersetzen. Dies erfolgt in den ``Bemerkungen'' zum Fall Paul Schreber, wie Widmer feststellt. Freud begründet den Vorschlag damit, dass für ihn ``Dementia praecox'' unglücklich gewählt und Bleulers ``Schizophrenie'' etymologisch unpassend ist. Für ``Paraphrenie'' spricht aus seiner Sicht, dass sie sowohl an die Paranoia erinnert, der sie zur Seite gestellt wird, als auch an die Hebephrenie, die bei Kraepelin in ihr aufgegangen ist.\footnote{\cite[S.~66f]{freudpab}; \cite[S.~81]{widmerschmid}} Nach einem Zitat bei Barth verwendet er jedoch auch 1912 in der Vorfassung von ``Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker'' noch den Begriff der ``Dementia praecox'' und ebenso wieder in der ``Übersicht der Übertragungsneurosen'' 1915. Auch 1923 bleibt er in ``Psychoanalyse'' bei dieser Bezeichnung.\footcite[S.~204,227ff,256f]{barth} Widmer gliedert Freuds Einstellung zu den Psychosen in fünf Phasen, von denen er in der zweiten bis vierten den Begriff der Paraphrenie als weitgehendes synonym für Dementia praecox und Schizophrenie verteidigt. In der letzten Phase ist davon keine Rede mehr, wobei die letzten beiden mehr logisch unterschieden werden und gewisse zeitliche Überschneidung besteht.\footcite[S.~76f,82,83]{widmerschmid} Neben dem Text über Schrebers Autobiographie führt Widmer eine Reihe weiterer Schriften Freuds an, die das Thema behandeln: ``Zur Einleitung der Behandlung'', ``Zur Einführung des Narzißmus'', sowie die ``Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse''. In die vierte Phase fällt folgendes Zitat aus der 26.\,Vorlesung von 1917: \begin{quote} ``Die Krankheitsform der Paranoia, der chronischen systematischen Verrücktheit, nimmt in den Klassifikationsversuchen der heutigen Psychiatrie eine schwankende Stellung ein. An ihrer nahen Verwandtschaft mit der Dementia praecox ist indes kein Zweifel. Ich habe mir einmal den Vorschlag erlaubt, Paranoia und Dementia praecox unter der gemeinsamen Bezeichnung der Paraphrenie zusammenzufassen. Die Formen der Paranoia werden nach ihrem Inhalt als: Größenwahn, Verfolgungswahn, Liebeswahn (Erotomanie), Eifersuchtswahn usw. beschrieben. Erklärungsversuche werden wir von der Psychiatrie nicht erwarten. Als Beispiel eines solchen, allerdings ein veraltetes und nicht ganz vollwertiges Beispiel, erwähne ich Ihnen den Versuch, ein Symptom mittels einer intellektuellen Rationalisierung aus einem anderen abzuleiten: Der Kranke, der sich aus primärer Neigung verfolgt glaubt, soll aus dieser Verfolgung den Schluß ziehen, er müsse doch eine ganz besonders wichtige Persönlichkeit sein, und darum den Größenwahn entwickeln.''\footcite[S.~453f]{freudvo} \end{quote} Nach 1917 greift Freud nicht mehr auf den Begriff der Paraphrenie zurück.\footcite[S.~61]{dalzell} Ob Freud den Namen der Paraphrenie von Kahlbaum oder dessen Assistent Hecker übernahm oder in Frankreich auf die Bezeichnung traf, war im Rahmen dieser Arbeit nicht eindeutig klärbar. Wilmanns sieht Übereinstimmungen zwischen Hecker und Freud, ohne jedoch ins Detail zu gehen.\footcite[S.~215]{kirchhoffdi2} Bei Charcot finden sich auf den ersten Blick keine Hinweise zu Guislains ``paraphrénie''. \subsection{Die endogenen Psychosen bei Emil Kraepelin und die Wiedereinführung der Paraphrenie}\label{ch:endogenepsychosen} % TODO %... % sechsten Auflage FALSCH! achte Auflage: Erstmals stellt Emil Kraepelin die Paraphrenie in der achten Auflage seines ``Lehrbuchs'' 1913 unter den ``endogenen Psychosen'' vor, zwei Jahre nach Freuds im \hyperref[ch:freud]{vorigen Kapitel~\ref{ch:freud}} ausgeführten Vorschlag, die ``Dementia praecox'' in ``Paraphrenie'' umzubenennen. Kraepelin definiert sie als eine Krankheit, bei welcher im Gegensatz zur ``Dementia praecox'' keine oder kaum Negativsymptome auftreten: \begin{quote} ``Darum wurden in einem zweiten Abschnitte zunächst diejenigen Formen zusammengefasst, die gegenueber den gewöhnlichen Gestaltungen der Dementia praecox in ihrem ganzen Verlaufe durch das {\em starke Hervortreten eigentümlicher Verstandesstörungen} ausgezeichnet sind, während selbständige Willensschädigungen und namentlich auch gemütliche Verblödung fehlen oder doch nur schwach angedeutet sind. Bei dieser Umgrenzung scheint mir der sonst heute nicht mehr gebräuchliche Ausdruck ``Paraphrenie'' fuer die Benennung der hier versuchsweise vereinigten Krankheitsformen einstweilen geeignet zu sein.''\footcite[S.~668]{kraepelin8} \end{quote} Kraepelin gibt hier keinen direkten Hinweis auf Ludwig Kahlbaum, den er aber sicher gelesen hat und unter anderem in einem Brief an Wilhelm Wundt 1881 in einem anderen Kontext erwähnt\footcite[S.~50]{steinberg}, auch dessen Assistent Hecker war ihm nicht unbekannt.\footcite[S.~50, 66]{steinberg} Ob er den Begriff der Paraphrenie von Guislain, Kahlbaum oder Freud übernommen oder woanders gefunden hat, ist aus diesen Quellen nicht ersichtlich. % TODO: Bedeutungswandel bei Kahlbaum -- Er erwähnt die Herkunft der ``Dementia praecox'' aus dem französischen von Morel über Pick.\footcite[671]{kraepelin8} Bei der Benennung seiner ``paranoiden Verblödungen'' gibt er aber keine über das obige Zitat hinausgehende Erklärung. Neben der ``Paraphrenia systematica'' diagnostiziert er auch die einander ähnlichen Varianten der ``Paraphrenia expansiva'', ``Paraphrenia confabulans'' und ``Paraphrenia phantastica''.\footcite[S.~974, S.~994, S.~1002, S.~1009]{kraepelin8} Die ``Paraphrenia systematica'' hat dabei eine langsame Progression mit zunehmend paranoiden Zügen, die Kranken zeigen paranoide Wahnvorstellungen, besonders Verfolgungs-, Größen- und Liebeswahn und schließlich auch akustische Halluzinationen. Die zeitliche und örtliche Orientierung bleibt erhalten, ``soweit nicht Wahnvorstellungen hineinspielen'',\footcite[S.~989]{kraepelin8} eine Genesung ist aber selten. Die ``expansive Form'' zeichnet sich im Lehrbuch vorwiegend durch Größenwahn und gehobene Stimmung aus, bisweilen mit vorhergehender Niedergeschlagenheit. Subakut beginnende Verläufe zeigen bald Sinnestäuschungen auch optischer Art.\footcite[S.~994ff]{kraepelin8} Bei der seltenen ``Confabulierenden Paraphrenie'' kommen ``Erinnerungsfälschungen'' hinzu, die bisweilen bis in die Jugend zurückreichen. Die ``Paraphrenia (Dementia) fantastica'' schließlich wird als Abfolge von zusammenhanglosen, wechselnden Wahnvorstellungen und akustischen Halluzinationen beschrieben, Kraepelin erklärt sie als weitgehend ident mit der ``Dementia paranoides'', die er jedoch zur Abgrenzung von ``wahnbildenden Formen der Dementia praecox'' neu einreiht.\footcite[S.~1002ff, S.~1009]{kraepelin8} Im Zusammenhang mit der ``Paraphrenia systematica'' erklärt er die Herkunft des Adjektivs mit einem Bezug auf Magnans Vorlesungen von 1891, der dort von einem ``Délire chronique à évolution systématique'' spricht.\footcite[p.~213ff]{magnan} Dass keine der Formen bei ihm einen Bezug zum (höheren) Alter hat, könnte ebenfalls ein Hinweis darauf sein, dass er die ``Paraphrenie'' nicht direkt von Kahlbaum, sondern aus dem französischen Gebrauch entlehnt. Die Abgrenzung zur Paranoia sieht er als schwierig.\footcite[S.~974, S.~990ff]{kraepelin8} Bis 1916 in der ``Einführung in die psychiatrische Klinik''\footcite[S.~330f]{psykli} bleibt die ``Paraphrenie'' als eigenständige, wenngleich verwandte Gruppe neben ``Dementia praecox'' und ``manisch-depressivem Irresein''. Nach einer Publikation von Wilhelm Mayer 1921 % REF führt auch er sie als Untergruppe der ``Dementia praecox'' an.\footnote{\cite[292]{zapotoczky}; \cite[]{mayer}} % Brief 299 vom 27. 1. 1881 über Sinnesdelirien, Anmerkung S. 129 % Bief 313 von Wilhelm Wundt am 13. 2. 1884, Anm. S. 140]{steinberg}