\section{Psychiatrie Mitte des 19.\, Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg}\label{ch:psychiatrie19} % 1863 -- 1914} % Psychiatrie vom achtzehnten Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg Das Kapitel soll den zeitlichen Rahmen für die Arbeit aufspannen und vor allem die Entwicklung eines Selbstverständnisses der Psychiatrie darlegen. Dieses entwickelte sich aus den beinahe entgegengesetzten Richtungen der zuerst in der Philosophie begründeten Psychologie einerseits und der Medizin andererseits. Selbst innerhalb der Medizin waren allerdings die klinischen und histologischen Zugänge im Widerstreit. Letzlich führten im 19.\,Jahrhundert die klinisch-diagnostischen Kriterien zu den differenziertesten Diagnosen. Die Autor*innen betonten stets die Wichtigkeit von histologischer und physiologischer Einordnung, die meisten Erkrankungen widersetzten sich jedoch einer solchen organischen Einordnung. % TODO: Krise der Philosophie woher??? Der Medizinhistoriker Eric\,J.\,Engstrom beschreibt den fachlichen Umbruch um die Mitte des 19.\, Jahrhunderts auch als eine ``Krise der Philosophie'', deren Bewältigung sowohl die Entstehung einer ``neuen Psychologie'' in den darauffolgenden Jahrzehnten darstellte als auch die Psychiatrie in ihrer Entwicklung nachhaltig beeinflusste. Er streicht einerseits besonders die zunehmende Wichtigkeit von somatischen Konzepten in dieser Zeit heraus, andererseits aber auch die Notwendigkeit für die Verfechter*innen der ``neuen Psychologie'', die ``zeitgenössisch vorherrschende Antipathie gegen die Naturphilosophie zu überwinden''. Darauf folgt allerdings auch der Hinweis, dass die Psychiatrie in den 1870ern bei weitem nicht auf biologische Konzepte und Hirnforschung beschränkt war, sondern sich zunehmend einem Methodenmix öffnete, etwa in Bezug auf die wichtiger werdende Empirie durch Erfahrung mit großen Heilanstalten und ``Irrenhäusern''. Auch die auf den darauffolgenden Seiten erläuterte ``Völkerpsychologie'' von Moritz Lazarus bzw.\, in etwas anderer Form Wilhelm Wundt und deren gemeinsame Basis der ``Psychophysik'' nach Gustav Fechner (auch bekannt vom Weber-Fechner-Gesetz der Sinnesphysiologie) ließe sich hier wohl anführen.\footcite[S.~43ff.]{engstrom2008} \subsection{Psychiatrie vor 1863} \begin{quote} ``It is no wonder, therefore, that the first half of the nineteenth century has outstanding significance for the history of psychiatry. Psychiatry deals with man as a person; its subject matter is the mind. Humanity, during its civilized history, had consistently tried to disregard the ``psyche'' as a matter for scientific interest and to reduce it to psychical mechanisms.[...]''\footcite[p.~134]{alexander} \end{quote} Der Begriff ``Psychiatrie'' wird Johann Christian Reil (1759 -- 1813) zugeschrieben, der ihn 1808 in seinem Aufsatz ``Über den Begriff der Medizin und ihre Verzweigungen, besonders in Beziehung auf die Berichtigung der Topik in der Psychiaterie[sic]'' verwendete\footcite[p 1]{marneros}. Marneros belegt hier Reils Ansatz, Psyche und Soma in einem Kontinuum zu sehen und die Psychiatrie als von der Medizin untrennbar zu zeigen. Konsequent versucht Reil in diesem Zusammenhang die Psychiatrie auch als dritten Bereich der Medizin neben Chirurgie und Pharmakologie (diese als Vorstufe der inneren Medizin) zu etablieren. Donalies weist in diesem Zusammenhang noch darauf hin, dass die Psychiatrie nicht Anfang des 19.\, Jahrhunderts unvermutet entstanden ist, sondern dass sie auf ``[...] Meinungen und Erfahrungen aufbauen, weiter forschen und arbeiten konnte, die schon davor, v.\, a.\, im 18. Jahrhundert, niedergeschrieben wurden. Eine Stunde Null hat es 1800 nicht gegeben. [...]''\footcite[S.~23f]{donalies} Reils Schüler Christian Friedrich Nasse (1778 -- 1851, siehe auch Kapitel~\ref{ch:psychesoma}) äußert sich wenige Jahre später eindeutig zu Gunsten der Bezeichnung ``Irreseyn'' als Oberbegriff für die psychischen Krankheiten. Nasse argumentiert, dass ``Irreseyn'' schonend für die Betroffenen sei und keine Aussage über die Art, sondern nur die Erscheinung der Pathologie mache, im Gegensatz etwa zu ``Geisteskrankheiten'', ``Seelenstörungen'', ``Verwirrtheit'', ``Gemüthsstörung'', ``Narrheit'', ``Unsinnigkeit'' oder ``psychische Deflexe''\footcite[S.~19]{nasse1818a}. Die auch bei Kant und Erhard gefundene ``Verrückung'' hat für ihn am ehesten eine korrekte Anmutung, scheidet jedoch aus, weil sie in der Literatur bereits für spezifische Krankheitszustände verwendet werde.\footcite[S.~28]{nasse1818a} Als lateinische Bezeichnung bevorzugt er die aus dem Französischen übernommene Bezeichnung der ``vesania'', die sich später auch bei Kahlbaum wiederfindet. Die etwa bei Linne verwendeten Bezeichnung ``mentales'' lehnt er aus den gleichen Gründen ab wie im Deutschen etwa die ``Seelenkrankheiten''. Im Griechischen sieht er die auch bei Vogel verwendete \textgreek{παρανοια} (Paranoia) als bereits hinreichend neutralen und umfassenden Begriff.\footcite[S.~30f hier nennt Nasse als Vorbilder für die Verwendung der französischen vesanie im Lateinischen Sauvages und Cullen, an anderer Stelle Dubuisson]{nasse1818a} Nasses wissenschaftlicher Zugang ist dabei, dass eine Einteilung auf wiederholbaren Beobachtungen beruhen muss und nicht alleine auf theoretischen Überlegungen oder einmaligen Ereignissen. Er setzt fort, dass diese Beobachtungen leicht und, wenn möglich, nicht nur Expert*innen zugänglich sein sollen. Eine Einteilung ist für ihn gut, wenn sie keine überflüssigen Unterscheidungen macht.\footcite[S.~33]{nasse1818a} Er schlägt daher vor, das Irresein wie bei Hippokrates und Cullen in Amentia (Blödsinn), Melancholie (Wahnsinn) und Manie (Tobsucht) zu unterteilen, auch wenn er sich mehr Trennschärfe wünscht.\footcite[S.~34ff]{nasse1818a} Dem setzt er die Hoffnung hinzu, später physische Korrelate zu den drei Krankheitsbildern zu finden.\footnote{\cite[S.~64]{roelckekk}; \cite[S.~48]{nasse1818a}} Er sieht die alte Einteilung als vorübergehend, kann sich aber durchaus vorstellen, dass sie auch für die Zukunft verwendet wird.\footcite[S.~43]{nasse1818a} Während die Einteilung der endogenen Psychosen in ``manisch-depressives Irresein'' und ``Dementia praecox'' auch in Bezug auf ähnliche Diagnosen in den diagnostischen Manualen des 20.~Jahrhunderts gemeinhin Emil Kraepelin zugeschrieben wird, argumentieren Adityanjee et al., dass diese Unterscheidung bereits in der Antike getroffen wurde. Beispielsweise sehen sie in hinduistischen Vedas 1400 v.~Chr.~eine deutliche Abgrenzung von dämonischer Besessenheit, Intoxikation und manisch-depressiven Störungen. Auch in der westlichen Überlieferung sehen sie in Mesopotamien, in Rom bei den Satiren von Horaz oder den Krankheitsbeschreibungen von Aurelianus über Größenwahn und paranoide Störungen Hinweise auf schizophrenoide Krankheitsformen. Die erste klare Beschreibung der Schizophrenie sehen die Autor*innen 1801 bei Philippe Pinel.\footcite[S.~437ff]{adityanjee} \subsubsection{Psyche und Soma in Psychiatrie und Medizingeschichte} \label{ch:psychesoma} Eine häufig berichtete Kontroverse der Psychiatrie im frühen 19. Jahrhundert war jene zwischen Psychiker*innen und Somatiker*innen; so auch bei Rafael Katzenstein.\footcite[S.~11]{katzenstein} Dabei handelt es sich jedoch, wie Michael Kutze\footcite[S.~27ff]{kutze} am Beispiel von Christian Friedrich Nasse, Carl Wigand Maximilian Jacobi (1775 -- 1858) und Johann Christian August Heinroth (1773 -- 1843) zeigt, nicht um eine strikte Trennung, sondern um ein Relikt aus der Psychiatriegeschichtsschreibung des 19.\,Jahrhunderts\footcite[S.~28]{kutze}. Diese Ansicht wird an anderer Stelle auch vom Herausgeber Volker Roelcke geteilt.\footcite[S.~49]{roelcke1} % TODO: war: 18. Jahrhunderts -- 19. oder 20.??? \begin{quote} ``Die deutsche Psychiatrie war am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von der Romantik beherrscht. Die sogenannten Psychiker sahen in den ``Geisteskrankheiten'' reine Erkrankungen der Seele ohne Beziehung zum Körper, und zahlreiche unter ihnen glaubten, daß die ``Geisteskrankheit'' aus Sünden und Laster entstehen. Prominent unter den Trägern dieser Vorstellung war J.\,Heinroth. Im Gegensatz zu den Psychikern sah die Schule der Somatiker die ``Geisteskrankheiten'' als körperliche Krankheiten an, die sich lediglich in seelischen Symptomen zeigten. Friedrich Nasse und Maximilian Jacobi waren deren Vertreter. Die Psychiater dieser Schule beschäftigten sich vor allem mit körperlichen Erscheinungen in der Geisteswelt: Puls, chemische Veränderungen, Gewicht. Der gewaltige Aufschwung der Naturwissenschaften und die Entdeckung [sic] im Gebiete der Neurologie verhalfen dann gegen Mitte des Jahrhunderts einer rein somatisch-mechanischen Einstellung in der Psychiatrie zum Sieg.''\footcite[S.~11]{kahlbaum} \end{quote} Auch erscheint die Aufteilung begrifflich problematisch, da eine Assoziation mit heutigen wissenschaftstheoretischen Konstrukten zu fürchten wäre, so könnten etwa (historisch nicht akkurat) die Psychiker*innen als Vertreter*innen einer ``wissenschaftlichen Psychologie'', die Somatiker*innen einer ``biomedizinischen, naturwissenschaftlichen Sicht auf leblose Materie'' interpretiert werden, wie Kutze schreibt. % \begin{quote} % ``Galten `Somatiker' wie Friedrich Nasse (1778 -- 1851) und Maximilian Jacobi (1775 -- 1858) als die humaneren `psychischen Ärzte' im Vorfeld der `modernen' Gehirnpsychiatrie, so steht der Protagonist der `Psychichker' Johann Christian Heinroth (1773 -- 1843) für die moralisch motivierten Praktiken einer inhumanen `pädagogischen' Kurmethode, die dann auch gleich mit den Zwangsmitteln der reich bebilderten Heilmittellehre des Peter Joseph Schneider aus dem Jahre 1824 illustriert weren können.''\footcite[S.~27]{kutze} % % TODO: 27ff Psychiker als Somatiker -- Somatiker als Psychiker" (Michael Kutze) % \end{quote} Er beschreibt, wie im frühen 19.~Jahrhundert dem ``Psychiker'' Johann Christian Heinroth Zwangsmethoden aus dem Repertoire Peter Joseph Schneiders von 1824 nachgesagt werden, während ``Somatiker*innen'' wie Friedrich Nasse und Maximilian Jacobi als menschlicher gesehen werden im Sinne einer zeitgemäßeren Medizin. \footcite[S.~27f]{kutze} Kutze führt weiter aus, dass alle drei einen Leib-Seele-Dualismus vertreten, wenn auch die Seele bei Heinroth eine wichtigere Rolle einnimmt. Bei ihm folgt der Körper den seelischen Funktionen, während bei Jacobi die Geistestätigkeit eine Funktion des Körpers ist. % ``die psychischen Erscheinungen Ausdruck des gesamten Organismus [sind], der in seiner Ganzheit `Organ' psychischer Tätigkeit ist [...]''. Bei Nasse gibt es eine konkretere Lokalisation von bestimmten psychischen Funktionen zu Körperregionen innerhalb und außerhalb des Kopfes\footcite[S.~31]{kutze}. Beide distanzieren sich jedoch deutlich von den Lokalisationstheorien sowohl nach Soemmerring als auch Gall, der daraus die Phrenologie ableitet.\footcite[S.~33]{kutze} % phrenologie/gall bei Volker Röelcke (KH u Kulturk)? Die ``Seele'' nimmt in der psychischen Krankheit auch unterschiedlichen Schaden: Jacobi nimmt an, dass sie, weil vom Körper abstrahiert, nicht erkranken könne; Jacobi argumentiert ursprünglich ähnlich, geht jedoch später von einer stärkeren Beteiligung der Seele an psychischen Störungen aus. Beim ``Psychiker'' Heinroth manifestieren sich psychische Störungen stets in der ganzen Person, also Geist und Körper, jedoch bleibt die Seele stets zumindest teilweise funktional.\footcite[S.~36f]{kutze} Einen absoluten Determinismus sehen beide Seiten nicht. Das wichtige Problem der Freiheit der Seele findet bei Nasse und Jacobi ihren Ausdruck als eine Art ``Determinismus des Biologischen [der psychischen Störung]''. Ersterer stellt unabhängig vom Konzept der Sünde in Abrede, dass die Seele selbst die Unfreiheit wählen würde, welche die psychische Störung bedingt.\footcite[S.~65]{roelckekk} Beim ``Psychiker'' Heinroth ist die Erklärung mehr religiöser Natur. Obwohl er weder im therapeutischen Bereich religiöse Methoden unbedingt propagiert, noch den Zusammenhang mit der Sünde herstellt\footcite[S.~39ff]{kutze}, wurde ihm genau das sowohl zu seiner Zeit als auch von der Geschichtsschreibung vorgeworfen. % TODO Nasse, Jacobi nach Alexander, d. Ir. ... So gehen etwa Alexander und Selesnick auf Heinroths Begrifflichkeiten genauestens ein und zeigen die Ähnlichkeit mit Freuds späterem Ich-Konzept auf\footcite[p 141]{alexander}, sehen aber bei ihm auch die Entstehung der Geistesstörung in der Sünde, die sie als Äquivalent zum Schuldbewusstsein späterer Psychiater*innen aufzeigen. Es seien auch nicht nur sündige Taten, sondern bereits Gedanken, die ein solches bewirken. Auf Grund der religiösen Terminologie werde er eher als religiöser Heiler denn als Vorläufer der Psychoanalyse gesehen. Seine Dreiteilung der psychischen Funktionen in erstens Gefühle und Instinkte, zweitens ein {\em Ego} für den Umgang mit und die Freude an der Welt sowie drittens ein Gewissen ({Über-Uns}) habe aber bereits eine Struktur, die eine Ähnlichkeit mit der später im psychoanalytischen Bereich verwendeten Aufteilung in {\em Id/Es}, {\em Ego/Ich} und {\em Superego/Überich} aufweist. Eine Parallele lässt sich angesichts seines Konzepts der moralischen Entwicklung wohl auch zu Lawrence Kohlbergs Darstellung der moralischen Entwicklung in präkonventioneller, konventioneller und postkonventioneller Ebene ziehen, ich konnte jedoch keine Belege für einen direkten Zusammenhang finden. Henseler weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Heinrich Wilhelm Neumann (1814 -- 1884) 1842 noch Heinroths Einschätzung teilt, der zufolge die ``Geisteskrankheit'' in ursächlichem Zusammenhang mit der Sünde steht und ``nicht ohne eine gewisse Einwilligung des Kranken'' entstehe. Diese Ansicht revidiert Neumann jedoch im ``Leitfaden'' 1859. Er sieht zwar noch eine ``Unfreiheit'' wie bei Heinroth, aber keinen Hinweis auf die Ansicht der ``Einwilligung'' mehr.\footcite[S.~91]{henseler} Dies sieht bereits Heinroths Zeitgenosse und in diesem Aspekt Gegenspieler Nasse ähnlich, er äußert 1818 die Ansicht, dass die Hauptursache für die psychische Krankheit (dort ``Irreseyn'') die Unfreiheit der Seele ist und nicht auf einer freien Entscheidung beruht. Er fügt hinzu, dass die ``Sünde'' bei ``Irren'' nicht häufiger zu finden sei als bei Gesunden und eine allfällige ``Erbsünde'' alle betreffe, nicht nur die Kranken.\footcite[S.~65]{roelckekk} Beide Seiten sehen also eine Dualität von Hirn und Seele und zeigen eine ``anthropologische'' Sicht mit paternalistischen Zügen.\footnote{\cite[S.~43]{kutze}; \cite[S.~67]{roelckekk}} Allerdings ist der ``psychische'' Zugang Heinroths strenger, die ``Somatiker'' Nasse und Jacobi vertreten einen liebevolleren Umgang, der aber die ``Irren'' nicht immer als zurechnungsfähige Personen sieht. % Psychiker*innen -- Somatiker*innen (Nasse/Heinroth) bei exzerpte/engstrom_roelcke__psychiatrie_im_19_jahrhundert u. "KH u Kulturkritik" Roelcke % Freud, ... % % non restraint \subsubsection{Zwang und Non-Restraint} \label{ch:zwang} Ein weiterer Aspekt, der im frühen 19.\,Jahrhundert kontrovers diskutiert wurde, betrifft die Zwangsmaßnahmen für die ``Irren'', insbesondere in Bezug auf eine Heilwirkung. Zu den Begriffen No-Restraint und Non-restraint: beide sind gebräuchlich; die Sekundärliteratur (hier nach Kai Sammet und Roland Schiffter) scheint eher zu Non-restraint zu neigen, Griesinger und Laehr sprechen jedoch von ``No-Restraint''. Zwar zählt die ``Befreiung der Irren aus Tollkoben, [aus] finsteren Kellergeschoße[n]'' zum ``Gründungsmythos der Psychiatrie''\footcite[S.~96]{sammet}, wie Kai Sammet formuliert. Entsprechend der aktuellen Verwendung argumentiert etwa Christian August Hayner 1817 gegen den Zwangsstuhl\footcite[S.~97]{sammet}, der dennoch bei Jacobi\footcite[S.~41]{kutze} 1834 noch Anwendung findet. Diesbezüglich gibt es auch zwischen den im vorigen Unterkapitel genannten Psychiker*innen und Somatiker*innen wenig Unterschiede. Die Therapien sind mit Bädern und Aderlass, pharmakologischem und physischem Reiz und Zwang recht ähnlich, auch wenn der theoretische Unterbau sehr verschieden ist.\footcite[S.~43]{kutze} John Conolly schaffte 1839 in Hanwell physische Zwangsmethoden ab und blieb auch später dabei. Kai Sammet führt an, dass dies 1860/70 auch noch von Bernhard von Gudden und Ludwig Meyer mitgetragen wurde, Griesinger bemüht sich wenig später, im ökonomischen und wissenschaftlichen Spannungsfeld Zwang zu vermeiden.\footcite[S.~100f]{sammet}, schließt jedoch auch einen historischen Abriss ein. Griesingers politische Einstellungen könnten dabei einen Einfluss auf seine Bemühungen zum Umgang mit Kranken gehabt haben: nicht nur musste er auf Grund von Betätigung in der verbotenen liberalen Burschenschaft die Universität Tübingen verlassen und den Rest seines Studiums mit anderen Flüchtlingen vor autoritären Regierungen in Zürich abschließen, er begründete auch die liberal gesinnten ``Jahrbücher der Gegenwart'', in denen er gegen Repression und Zensur schrieb.\footcite[S.~68ff]{roelckekk} Bei den Verfechter*innen des späteren Non-restraint gab es auch Ressentiments gegen das Aufsichtspersonal. Johann Christian Reil und Ernst Horn klagten 1803 bzw. 1818 über mangelnde Bildung und moralische Integrität der ``Wärter*innen'', Wilhelm Bergsträsser warf ihnen 1848 vor, die ``Kunst und Wissenschaft des Arztes'' zu behindern\footcite[S.~109]{sammet}. Grundsätzlich wird die Meinung weitgehend geteilt, dass Arbeit ein notwendiger Aspekt in der Unterdrückung, wenn nicht Heilung von ``Geisteskrankheiten'' ist. Die Meinungen gehen aber auseinander, wie weit Zwang angewandt werden darf, alleine um ``Irre'' gefügig zu machen. Griesinger wendet anstatt eines Käfigbetts etwa 1860 eines mit hochgezogenen Seitenwänden an.\footcite[S.~95ff]{sammet} Er beruft sich dabei auf Conolly. % TODO: (Zwangs-)Arbeit bei maximaler Freiheit, z. B. engstromroelcke 107ff -- non-restraint 1850-70 -- Zitate! % TODO: CHRONOLOGIE, no-restraint vs. non-restraint vereinheitlichen Heinrich Laehr hält die ganze Idee für unsinnig. Er kämpft zwar selbst gegen den Missbrauch der ``Sicherungswesten'', wie er sie nennt, und will sie nur im Notfall einsetzen\footcite[S.~11f]{laehr}. Er weist aber darauf hin, dass sich auch in England No-Restraint nicht unbeschränkt bewährt habe. Süffisant zitiert er Griesinger selbst, der zwanzig Jahre vorher in seinem Lehrbuch von 1845 No-Restraint eher kritisch sieht. Jener führt dort an, dass ``Gründe zwar gegen den Missbrauch der Zwangsmittel, aber noch nicht für ihre Verwerfung in allen Fällen sprechen''. Er argumentiert für mechanische Zwangsmittel und gegen ``Gewalttätigkeiten'' von ``unverhältnismässigen Wärterzahl[en]''. Er erwähnt auch, dass einzelne Kranke selbst um entsprechende Hilfsmittel bitten, weil dann Anfälle rascher zu bewältigen wären. Selbst ein Bericht an das ``englische'' Parlament kommt laut diesem Text zu dem Schluss, dass ``Scenen grober Ruhestörung und Gewaltthat aus den Häusern [berichtet werden], wo das No-Restraint eingeführt war [...]''\footnote{\cite[S.~372ff]{griesinger1845}; \cite[S.~16ff]{laehr}} % % Sammet: "Robert Esther hat in einer Fallstudie festgestellt, dass Ende des 19. Jh. nur offen fremd- oder selbstgefaehrdendes Verhalten zur Anwendung mechanischer Zwangsmittel fuehrte, waehrend im 20. 'schon' lautes Schreieb als nicht tolerabel eingestuft wurde (FN 12: Robert J Esther Use of phys. restraints in a 19th c state hospital, Hist. of Ps. 8 1997 83-93, 92); % \subsubsection{Psychiatrische Lehre zwischen Anstaltspraktikum und Universitätslehrstuhl}\label{ch:anstalt} Die Besetzung der Lehrstühle bleibt für lange Zeit ein kontroversielles Thema. Während die ersten Dozent*innenstellen meist ``Irrenärzt*innen'' innehaben, deren Befähigung vor allem aus ihrer Position und Erfahrung als Anstaltsleiter*innen stammt, ist diese Karrieremöglichkeit in späteren Jahren zunehmends umstritten und steht ab 1900 kaum mehr offen. Die Argumentationslinien sind hier durchaus zwischen den Lagern gespalten: Länder und Ministerien profitieren von finanziellen und organisatorischen Synergien der Personalunion, allerdings müssen die beiden Positionen bei Neubesetzungen jeweils individuell verhandelt werden. Die medizinischen Fakultäten haben bei der Bestellung der Leiter*innen kein Mitspracherecht, sodass sich bei Tod oder Kündigung rasch eine Lücke im Lehrkörper ergeben kann, und schlimmer noch eine Besetzung gegen die Interessen der Fakultät drohen könnte. Die Direktor*innen wiederum sind an ihren Anstalten zunehmend mit administratorischen Anforderungen ausgelastet und sehen sich entsprechend bisweilen von zusätzlichen akademischen Pflichten überfordert.\footcite[S.~121f]{engstrominstruction} Als Wendepunkt in diesem Prozess beschreibt Eric Engstrom die Einrichtung der ersten von der Anstaltspsychiatrie unabhängigen Universitätsklinik für Psychiatrie in Halle 1884. Zuvor hatte Eduard Hitzig als Anstaltsleiter auch den Lehrstuhl betreut, das preußische Ministerium % TODO: welches? lehnte aber eine weitere Finanzierung seiner Dozentur ab und begann damit einen Prozess, der die psychiatrische Lehre in Deutschland nachhaltig verändern sollte.\footcite[S.~132ff]{engstrominstruction} \subsubsection{Andere Spannungsfelder: Zugänge zur Neurologie und Psychiatrie} Ein weiterer Streitpunkt ist im gesamten neunzehnten Jahrhundert der wissenschaftliche und didaktische Zugang zur Psychiatrie. Roelcke erwähnt etwa die unterschiedlichen Ansprüche der Lehrenden je nach Ausgangspunkt: {\bf ``Irrenärzt*innen''} (also Anstaltsleiter*innen) sehen es als essenziell an, besonders das Leben im ``Irrenhaus,'' die dortigen Gepflogenheiten, den Tagesablauf und die therapeutischen Methoden kennenzulernen. {\bf Hirnanatom*innen} streichen die Wichtigkeit eines wissenschaftlichen Zugangs heraus und sehen in anderen Zugängen die Gefahr, dass sich die Psychiatrie zu sehr in administrativen Pflichten verlieren könnte, wohingegen {\bf Kliniker*innen} die psychiatrische Lehre fest am Krankenbett verorten. Das Erlernen der Beobachtung und Interpretation von klinischen Symptomen ist für sie die wichtigste Grundlage der psychiatrischen Ausbildung.\footcite[S.~118]{engstrominstruction} Der naturwissenschaftliche Zugang ist dabei zwar in den 1870ern und 1880ern wichtig, um eine wissenschaftliche Fundierung der Psychiatrie an den Universitäten voranzutreiben, in der Folge nimmt aber die ``Psychologisierung'' eine immer größere Bedeutung an, um die institutionellen Herausforderungen % "jurisdiction over psychiatric institutions" -- 147 forensics? und die Einordnung in das Lehrgebäude der Medizin zu erleichtern.\footcite[S.~141, S.~145]{engstrominstruction} Bis in die 1850er ist die psychiatrische Ausbildung durch eine Art ``Wanderjahre'' gekennzeichnet, zum einen Teil privat finanziert und zum anderen auch im staatlichen Auftrag zur Begründung neuer ``Irrenhäuser''. Diese Möglichkeit bleibt bis etwa 1900 bestehen, ab etwa 1860 gibt es allerdings zusätzlich eine neue Generation von ``Irrenärzt*innen'', deren Ausbildung eine rein universitäre ist, namentlich etwa Wilhelm Griesinger, Eduard Hitzig, Carl Westphal und Hermann Emminghaus.\footcite[S.~120]{engstrominstruction} \subsubsection{``Dementia paralytica'' und Einheitspsychose}\label{ch:einheitspsychose} Das verbreitetste nosologische Konzept der Psychiatrie in Deutschland war wie in der ersten Hälfte des 19.\, Jahrhunderts auch um 1860 die Vorstellung, dass die klinischen Bilder des ``Irreseins'' in Verlaufsformen ohne scharfe Grenzen nacheinander auftreten. Häufig wird dies als Einheitspsychose bezeichnet, ein Begriff, der auf Albert Zeller zurückgeht\footcite[S.~128]{engstrominstruction} und weitgehend deckungsgleich ist mit dem Konzept Heinrich Wilhelm Neumanns (1814 -- 1884), auf den sich auch Kahlbaum beruft. Gemäß diesem durchlaufen typische Psychosen prozesshaft vier Stadien, welche stets in der gleichen Reihenfolge ablaufen und jeweils im Wesentlichen durch Melancholie, Manie, Verwirrtheit und ``Blödsinn'' gekennzeichnet sind.\footcite[S.~16]{katzenstein} Allerdings sieht Neumann die Melancholie bereits als außerhalb des Schemas der Einheitspsychose stehend: \begin{quote} ``Die Melancholie, welche man im Anfange vieler Fälle von Seelenstörung beobachtet und welche daher gewöhnlich als ein Stadium prodromorum angesehen wird, in anderen Fällen aber auch fehlt, will Neumann nicht als ein besonderes Stadium angesehen wissen, weil er sie nicht nur vor dem Auftreten des Wahnsinns, sondern auch nach demselben beobachtet hat und weil er selbst in allen Stadien, auch selbst während des Stadiums des Wahnsinns bisweilen melancholische Verstimmung wahrzunehmen Gelegenheit gehabt hat.''\footcite[S.~41]{kahlbaum} \end{quote} Diese Ansicht vertritt Neumann auch 1883 noch. Er geht davon aus, dass die Melancholie eine leichte Form der ``Seelenstörung'' ist und mit oder ohne Behandlung von selbst abheilen kann.\footcite[S.~57]{neumannpsych} Insgesamt geht er bei der ``Dementia paralytica'', wie er die Einheitspsychose nennt, von einer strengen Progression der Krankheit aus und sieht eindeutig ``Stadien'', jedoch ohne strenge Abgrenzung zwischen dem ``Stadium der Produktion'' (Wahnsinn), ``Stadium der Lockerung des Zusammenhangs'' (Verwirrtheit) und ``Stadium des Erlöschens der geistigen Leistungen'' (Blödsinn).\footcite[S.~53]{neumannpsych}\label{neumannstadien} Emil Kraepelin bezeichnet die ``Einheitspsychose'' 1918 als ``Zeller-Griesingersche Lehre''.\footcite[S.~80]{kraepelin100} Griesinger gab zwar in seinem Spätwerk das Konzept auf zu Gunsten einer ätiologischen Klassifikation unter Einbindung einer neuropathologischen Variante von Morels Degenerationslehre. Diese Ansicht schlug sich jedoch nur in seinen Aufsätzen ab dem Jahre 1866 nieder, er starb 1868, bevor er sein gut eingeführtes und Kraepelin wohlbekanntes Lehrbuch in diesem Sinne erweitern konnte.\footnote{\cite[S.~91]{roelckekk}; \cite[S.~80]{kraepelin100}; \cite[p.~65, p.~86]{morel1852}} % nach roelckekk/91 Einheitspsychose mit "neuropath." KH-Perspektive zugunsten % Degenerationstheorie 1866-68 v. Griesinger über Bord geworfen Da die Einheitspsychose im Frühstadium als heilbar galt und die Prognose mit der Abfolge der Stadien als immer schlechter angenommen wurde, war eine frühe Hospitalisierung ein wichtiges Ziel in der psychiatrischen Versorgung Anfang des 19.\,Jahrhunderts.\footcite[S.~114f, auch S.~96 u. S.~102]{sammet} Kahlbaum rezipiert die Einheitspsychose in seinem Werk von 1863 und führt sie unter der Bezeichnung ``Vesania typica'' bei seinen ``Geisteskrankheiten'' an. Auch 1867 besteht beim Psychiater*innenkongress in Paris noch Uneinigkeit über die Einheitspsychose und der entsprechenden diagnostischen Bedeutung von ``Wahn'' und ``Melancholie''.\footcite[S.~175]{roelckeunterwegs} Hermann Emminghaus berichtet 1878 über die Uneinigkeit zwischen Fachkolleg*innen, ob ``Verrücktheit'' eine sekundäre Störung sei, oder ob ``Melancholie'' und ``Manie'' zwangsläufig aufeinander verlaufen, was die ``Verrücktheit'' ebenfalls als ``primäre'' Störung bedingen würde. Er sieht die Fragestellung aber allgemein als unwichtig an und nur für die ``specielle[n] Psychosen'' relevant.\footcite[S.~275]{emminghaus} \subsection{Karl Ludwig Kahlbaums Zeit und Lehre}\label{ch:kahlbaumzeit} \begin{quote} ``Und so glaube ich mich keiner unnützen Subtilitätssucht schuldig zu machen, wenn ich diese Fälle von Seelenstörung, in welchen das Stadium melancholicum nicht beobachtet werden konnte (ohne dass es an einem Beobachter fehlte!) als eine andere Art, oder Varietät oder Untervarietät ansehe und in dem {\it jähen} Ausbruche der Krankheit, in dem Anbeten des höchsten Grades der Acme von Anfang an, die Eigenschaft erkenne, welches als charakteristisches Symptom hervorgehoben werden muss und von welcher die Bezeichnung hergenommen werden mag. Ich will sie daher Vesania typica präceps nennen.''\footcite[S.~68]{kahlbaum} \end{quote} Der Inhalt dieses Kapitels geht vorwiegend auf die Ausführungen von Rafael Katzenstein in ``Karl Ludwig Kahlbaum und sein Beitrag zur Entwicklung der Psychiatrie'' zurück, wobei auch einige Zitate von Kahlbaum selbst Eingang finden sollen.\footcite[]{katzenstein} 1863 erschien die erste Auflage von Kahlbaums Lehrbuch ``Die Gruppirung der psychischen Krankheiten und die Eintheilung der Seelenstörungen''. Dieses Werk hätte polarisieren können, es brachte Erweiterungen und ganz neue Konzepte in die Psychiatrie, für fast zwei Jahrzehnte war es der modernste Zugang zur Psychiatrie im deutschsprachigen Bereich. Rafael Katzenstein führt allerdings mehrere Gründe an, warum die Rezeption weniger enthusiastisch, die resultierenden Veränderungen geringer und die Auswirkungen auf Nomenklatur und Klassifikation weniger direkt waren, als die Konzeption des Werkes hätte erwarten lassen können. Kahlbaum würdigt durchaus die Einheitspsychose des vorigen Kapitels im historischen Einführungsteil seines Buches. Er spricht von ``dem Neumannschen Schema entsprechenden Fällen'' und erkennt sie unter der Bezeichnung ``Vesania typica'' als Unterpunkt einer seiner fünf Gruppierungen von ``Geisteskrankheiten'' an.\footcite[S.~66]{kahlbaum} Er hat jedoch zwei wesentliche Kritikpunkte an diesem Modell: erstens sieht er die Einheitspsychose als häufigen, aber nicht einzig möglichen Verlauf und einzige Erklärung, sondern argumentiert, dass die Phasen auch unabhängig voneinander vorkommen können, nicht zwingend in dieser Reihenfolge auftreten müssen und auch Phasen entfallen können, zweitens legt er Wert auf die strikte Trennung von Krankheitseinheiten (vergleichbar mit Symptomen) bzw.\, Zustandsformen und Krankheitsbildern. Er beschreibt die vier Phasen der Einheitspsychose anhand ihrer Sympome, um sie dann als Krankheitsphasen mit einer neuen Nomenklatur zu versehen, und schreibt so vom ``Stadium incrementi vesaniae typicae'', welches durch Zeichen der Melancholie gekennzeichnet ist, einem ``Stadium acmes'', bei dem das Hauptsymptom die Manie ist, vom ``Stadium decrementi'', in dem Verwirrtheit (Verrücktheit) eintritt und vom ``Stadium defecti'' mit dem Endzustand des ``Blödsinns'' (ein Zustand, der mit Demenz assoziiert werden könnte). % TODO: wann Nomenklatur Verwirrtheit (Verrücktheit), Blödsinn (Demenz)? Im Hauptteil des Buches entwickelt Kahlbaum seine psychiatrische Krankheitslehre in fünf Gruppierungen. Die erste Gruppe in nennt er {\bf ``Vesania''}, neben der ``Vesania typica completa'' mit allen Stadien beschreibt er Unterformen, bei denen etwa die erste oder zweite Phase, nicht zu beobachten sind (``Vesania typica praeceps'' bzw. ``Vesania typica simplex''). Außer der ``Vesania typica'' nennt Kahlbaum auch die ``progressive Paralyse'' oder ``progressive Parese''\footcite[S.~79ff]{kahlbaum}) als ``Vesania progressiva''\footcite[S.~18]{katzenstein} in dieser Gruppe, sowie die später oft zitierte ``Katatonie'', auch ``Spannungsirresein'', die aber nicht in seinem Lehrbuch von 1863, sondern erst in der Monographie 1874 und in einem weiteren Aufsatz von 1878 aufscheint. Diese teilt er wiederum in eine ``Katatonia mitis'', ``gravis'' und ``protracta''.\footnote{\cite[S.~19, S.~28]{katzenstein}; \cite[S.1134, S. 1141]{kahlbaum1878}} Erstere nennt er auch eine ``Melancholia attonita'' mit häufigen, aber flüchtigen Ausbrüchen, der Begriff kommt bereits 1863 als ``Habitualform'' vor.\footcite[146]{kahlbaum} Der ``Katatonia gravis'' ordnet er, wie der Name sagt, einen schwereren Verlauf mit längeren und/oder schwereren neuromotorischen Störungen zu, während die ``protrahirte Form'' durch Remissionen und Intermissionen gekennzeichnet ist.\footcite[88ff]{kahlbaumkatatonie} Wie Friedrich Nasse einige Jahre früher schreibt, wurde der Begriff der ``vesanie'' vorher bereits in Frankreich für psychische Störungen verwendet, er empfiehlt ihn auch als lateinischen Überbegriff für die psychischen Krankheiten, die er im Deutschen ``Irreseyn'' nennt.\footcite[S.~18 hier nennt er Dubuisson, an anderer Stelle Sauvages und Cullen]{nasse1818a} Die zweite Gruppe der {\bf ``Vecordia''} wird als eine idiopathische Seelenstörung beschrieben, welche sich nur auf eine der drei Sphären von Gemütsleben, Denktätigkeit und Willen auswirkt. Auch hier legt er Wert auf die Trennung von Zustandsformen (Symptomen) und Krankheitsformen und spricht von einer ``Dysthymia'' bei Beobachtung melancholischer Zeichen, einer ``Paranoia'' bei Verrücktheit mit Denkstörungen, wobei er die Wörter ``Verwirrtheit'' und ``Perturbation'' für die Zustandsformen reserviert, sowie einer ``Diastrephia'' bei Einschränkungen des Willens und der Handlungsfähigkeit. Katzenstein spricht hier von einer Vergleichbarkeit mit ``Psychopathien'' sowie ``manie sans délire'' oder ``monomanie instinctive'', führt jedoch aus, dass letzteres Krankheitsbild in Kahlbaums späterem Werk fallengelassen wird, weil auch andere Symptome beobachtbar sind außer der Willensstörung. Als ebenfalls nur 1863 angeführte Untergruppe sei noch die ``Vecordia insania'' mit inhaltlichen, jedoch nicht totalen Defekten in allen drei Sphären zu nennen.\footcite[S.~20f]{katzenstein} Als dritte Gruppe in Kahlbaums Krankheitslehre steht die {\bf ``Dysphrenie''}, welche er als ``sympathische und symptomatische Seelenstörung im Anschluss an einen speciellen physiologischen oder pathologischen Körperzustand sich entwickelnd mit dem Charakter der Totalerkrankung des psychischen Lebens und der Vermischung dieser Symptome''\footcite[S.~136]{kahlbaum} beschreibt. Er unterscheidet hier nach ätiologischen Gesichtspunkten eine ``Dysphrenia nervosa'', welche das ``animale'' System, also die Nervenbahnen betrifft und etwa die Epilepsie einschließt, die ``Dysphrenia chymosa'', bei der das ``vegetative'' System über die Blutbahn Einfluss auf das Gehirn nimmt, z. B. Alkoholrausch oder delirium tremens und die ``Dysphrenia sexualis'', welche unabhängig vom Übertragungsweg über Blut oder Nerven an Geschlechtsprozesse wie die Menses gebunden wiederholt auftritt. % Wo habe ich die her? % Daneben beschreibt er für die Dystrophia detailliert Verlaufsformen und Wiederholungsmuster mit eigener Nomenklatur. Die vierte Gruppe der Krankheitslehre wird von den {\bf ``Neophrenien''} belegt, welche neben einer angeborenen ``Neophrenia innata'' (simplex, cretinica oder epileptica), von anderen laut Katzenstein auch ``Dementia congenita'' genannt\footcite[S.~22]{katzenstein} und einer erworbenen ``Neophrenia morbosa'' (simplex, epileptica) auch eine ``Neophrenia carens'' umfasst, welche sich durch Mangel eines höheren Sinnesorgans auszeichnet (coeca, surdo-mutua). Als fünfte und letzte Gruppe der Krankheitseinteilung nennt Kahlbaum schließlich die {\bf ``Paraphrenien''}, welche als eine Klasse von Geistesstörungen beschrieben wird, welche sich in Zeiten der geistigen Veränderung entwickeln. Es wird darunter eine ``Hebephrenie'' als Psychose in der Pubertät sowie eine ``Paraphrenia senilis'' im Greisenalter eingeordnet, wobei letztere nach Katzenstein sonst ``Dementia senilis'' genannt wird\footcite[S.~23]{katzenstein}. Eine weitere Untergruppe, die ``Paraphrenia hypnotica'' oder ``Hypnophrenia'', welche als eher theoretisch angeführte Seelenstörung im Schlaf erklärt wird und etwa Schlafwandeln und Albdruck erklären soll, entfällt 1878.\footcite[129]{kahlbaum} Für eine eingehender Beschreibung von Kahlbaums Paraphrenie sei auf Kapitel \ref{ch:kahlbaumparaphrenie} verwiesen. Im Anschluss an die Krankheitslehre erklärt Kahlbaum den theoretischen Unterbau, der auf einer Unterscheidung von Symptomen (wie Neumann spricht Kahlbaum von (Krankheits-)Elementen\footcite[S.~139]{kahlbaum}), Erscheinungskomplexen und Krankheitsbild (namentlich die Einheitspsychose) beruht. Nach Karl Stark (1836 -- 1897) und Joseph Guislain (1797 -- 1860) beruft er sich auf Zustandsformen aus 15 Elementarformen, jeweils drei (Hyper-, Hypoaktivität und, qualitative Veränderung) aus den Bereichen Gefühlsleben, Gedankengang, Willensäußerung, Motorik und Sensibilität.\footcite[S.~23]{katzenstein} So werden der Melancholie als häufige Symptome Hyperthermie, Hyperästhesie, Parathyme, Hypernoëse und Hyperkinesie zugeordnet, im Gegensatz dazu dem ``Blödsinn'' eine ``Anoësia'' (Wahnsinn) und der Verwirrtheit eine ``Paranoësia'', der Manie hingegen vor allem eine ``Hyperergia''. Er betont den theoretisch-mnemonischen Wert und die Wichtigkeit der Beobachtung des Verlaufs für die Prognose, beispielsweise die Abfolge von Melancholie und Manie\footcite[S.~23f]{katzenstein}. Die Beschreibung ähnelt durchaus jener bei Guislain\footcite[p.~186]{guislain1833}. Bemerkenswert ist die fehlende Rezeption Kahlbaums zu seiner Zeit oder vielmehr die spärliche wissenschaftliche Diskussion, die seine Krankheitslehre erfährt. Er teilt dieses Schicksal mit seinem Lehrer Wilhelm Neumann\footcite[S.~133]{engstrominstruction}. % , n.\ 44 mit Seitenhieb auf Griesinger, Eric J.\,Engstrom nach Heinz Henseler: ``Die `analytische Methode' des Psychiaters Heinrich Wilhelm Neumann'', med. Diss. 1959 Universität München, S.~20-1]{engstromroelckepsych19}. Katzenstein sieht dafür mehrere Gründe: sein Stil ist schwerfällig und umständlich, Kahlbaum spart zugunsten des wissenschaftlichen Textes mit praktischen Beispielen, und die neue Nomenklatur (Aufteilung in Symptome und Krankheitsbilder) wird als störend empfunden. Auch verhindert die verbreitete Konzeption der ``Einheitspsychose'' die klinische Betrachtungsweise. Eine deutlich größere Verbreitung erfahren zum Missfallen Kahlbaums ausgerechnet die Schriften, die der Assistent Ewald Hecker (1843 - 1909) in seinem Auftrag verfasst.\footcite[S.~37ff]{katzenstein} Kahlbaum erklärt teilweise nicht einmal die sperrigen Begrifflichkeiten, bei der ''mania melancholica'' beispielsweise nennt er als Symptome ``Hyperthymia, die Hyperergesia (Stark's Hyperbulia) und die Anoësia, sodann die Hypernoësia, die Parathymia, Paranoësia und Parergesia'' und merkt lapidar an: ``Es kann natürlich dem Plane dieses Werkes entsprechend hier nicht der Ort sein auf das Materielle dieser Gegenstände wissenschaftlich näher einzugehen [...]''.\footcite[152]{kahlbaum} % Eine Erklärung bleibt notwendigerweise daher auch hier ausständig. Katzenstein schließt, dass Kahlbaum seiner Zeit voraus war und von seinen Krankheitsformen die Katatonie und die in seinem Namen von dessen Assistent Hecker vorgestellte Hebephrenie in Verwendung bleiben.\footcite[S.~40]{katzenstein} Gerade sein vielleicht bekanntestes Erbe, die ``Katatonie'', kommt allerdings in dem Lehrbuch von 1863 noch nicht vor, ihr widmet er 1874 eine Monographie.\footcite[]{kahlbaumkatatonie} Wie auch in \hyperref[ch:paraphrenienachkahlbaum]{Kapitel~\ref{ch:paraphrenienachkahlbaum}} ausgeführt sind Bezüge zu Kahlbaum in den folgenden Jahrzehnten nicht nur bei Kraepelin immer wieder zu finden, etwa erinnert Meynert 1876 im Zusammenhang mit basaler Meningitis an Kahlbaums Katatonie.\footcite[S.~5]{meynert} % TODO: Mehr Bezüge auf Kahlbaum/Referenzen \subsection{Kongresse, Lehrbücher und nosologische Konzepte}\label{ch:kongress} % TODO: mehr von Roelcke ... Wie schon in der Einleitung kurz umrissen, gab es ab 1870 einige gesellschaftliche Veränderungen mit Auswirkungen auf die Psychiatrie im deutschen Kaiser*innenreich, die Volker Roelcke in drei Punkten zusammenfasst: erstens wurde durch die Entwicklung eines Sozialversicherungswesens anstatt der Zuständigkeit der Gebietskörperschaften die Erstellung einer ``Irrenstatistik'' wichtiger, da mit dieser Umstellung die Frage nach Risikoabschätzung und Ressourcenplanung einher ging. David Lederer weist im gleichen Band auf das ``Kontributionssystem'' hin und belegt nach Doris Kaufmann die Verantwortung und teilweise Zahlungsunwilligkeit von ``Verwandten, ländlichen Gemeinden und Bezirken'' 1803.\footnote{\cite[S.~171]{roelckeunterwegs}; \cite[S.~82]{lederer}} Zweitens erfolgte sukzessive die Verankerung der Psychiatrie in den medizinischen Curricula. Das bedeutete, dass alle Medizinstudent*innen sich mit dem Fach befassen mussten, also eine Notwendigkeit der Standardisierung des Wissens. Damit ging wiederum ein erhöhter Bedarf an Spezialist*innen einher, um die Lehrposten und Professuren zu besetzen\footcite[S.~182]{roelckeunterwegs}. Das führte dazu, dass drittens die Psychiatrie in Wissenschaft und Praxis reformiert werden musste, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden.\footnote{\cite[S.~169-188]{roelckeunterwegs}; \cite[S.~77f]{roelcke2018}} Die Forderung nach einer ``Irrenstatistik'' wurde beim Psychiater*innenkongress in Paris 1867 laut, der unter der Leitung von Ludger Jules Joseph Lunier (1822 -- 1885) stattfand. Es wurden ``Autorität, Validität und prognostisch-praktische Relevanz psychiatrischer Kategorien und Urteile'' davon erhofft, unter Mitarbeit von Griesinger, Mundy und Roller entstand ein Entwurf, der ``an alle Regierungen sowie die psychiatrischen und statistischen Gesellschaften in Europa und den USA versendet'' wurde. Dieser beinhaltete den Vorschlag eines Zählblatts, für dessen Inhalt allerdings vorerst kein Konsens gefunden werden konnte und welches zu Konflikten zwischen dem von Griesinger über das ``Archiv für Psychiatrie'' beeinflussten Preussen und dem Rest Deutschlands und dem Verein deutscher ``Irrenärzte'' bzw. der ``Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie'' führte; Christian Friedrich Nasse schrieb dazu, dass die Zählblätter ``von der Regierung octroyiert'' worden seien. Unter anderem bestand Uneinigkeit über die Klassifizierung von Melancholie und Wahn als ``primäre'' oder, auf Grund der Lehre von der Einheitspsychose, als ``secundäre'' Seelenstörungen. Nach Beilegung dieses Streits mit dem Ergebnis, sie als ``primäre'' oder ``einfache'' Störungsformen zu bezeichnen, entspann sich eine weitere Diskussion zwischen Carl Westphal von der Berliner Charité und dem Leiter der Bonner Anstalt Carl Hertz, ob es sich dabei um ``Verrücktheit'' oder ``Wahnsinn'' handle.''\footcite[S.~172, S.~174f]{roelckeunterwegs}. Roelcke führt die beachtliche Zahl an Lehrbüchern, die in den Jahren ab 1878 erschienen, im Wesentlichen auf die Erwartung zurück, dass Psychiatrie alsbald in die Lehrpläne der Universitäten integriert würde. Dabei hebt sich bereits strukturell Kraepelins ``Compendium''\footcite[]{kraepelin1883} von den Werken der anderen Autor*innen ab, etwa Emminghaus, Schüle, Dittmar, Blandford (in deutscher Übersetzung), Krafft-Ebing und Weiss.\footnote{\cite[S.~183]{roelckeunterwegs}; \cite[]{emminghaus}, \cite[]{schuele}, \cite[]{dittmar}, \cite[]{blandford}, \cite[]{krafftebing}, \cite[]{weiss2}} Während bei jenen am Anfang eine Übersicht über die Geschichte der Psychiatrie, psychiatrische Elementarerscheinungen wie Gefühl, Verstand und Wille sowie Notizen zur Problematik der Klassifikation der Erscheinungen des Seelenlebens stehen, beschränkt sich Kraepelin im zweiseitigen Vorwort darauf, ``eine gewisse Selbständigkeit der Themen'' einzuräumen und geht im ersten Kapitel auf Hilfswissenschaften und Methodik ein, worunter er sowohl physiologische und pathologische Aspekte als auch anthropologische % TODO: "physiol. Anthr.???" Vergleiche sowie psychologische Messungen und Beobachtungen zählt\footcite[S.~183]{roelckeunterwegs}. Diese Schwerpunktsetzung ist wohl auf seine Begeisterung für die Experimentalpsychologie Wilhelm Wundts zurückzuführen, auch wenn er spätestens in Dorpat zu der Erkenntnis gelangen musste, dass ``der bei Wundt erlernten experimental- und pharmakopsychologischen Methode fuer die Wissensschöpfung über psychische Krankheiten eben lediglich der Rang einer Hilfswissenschaft zukommt und nicht, wie vordem gedacht, der der Schlüsselwissenschaft''\footcite[S.~144]{steinberg}. Auch Carl Wernicke veröffentlicht in dieser Zeit die erste Ausgabe seines Lehrbuches.\footcite[]{wernicke1881} % TODO mehr Uni (Engstrom1998 p 117ff ...) \subsection {Justiz und Psychiatrie} Eine wichtige Aufgabe der Psychiatrie bzw.\,vorher der Medizin war die Beurteilung der Schuldfähigkeit von Angeklagten. Der Diskurs war seit der frühen Neuzeit relevant und erstreckte sich auch ins 20.\, Jahrhundert\footcite[S.~219]{germann}. Germann weist in dem Artikel auf die beiden Betrachtungsweisen zunehmender gutachterlicher Tätigkeit hin: einerseits als Unterstützung des Gerichtsprozesses, andererseits als Abwälzung von Verantwortung der Behörden. Er kommt zu dem Schluss, dass die allgemein verbesserte Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden und Gutachter*innen und die mit etwa 80 Prozent recht hohe Übereinstimmung von Urteilen mit den Empfehlungen der psychiatrischen Gutachter*innen auf eine gute Zusammenarbeit hindeuten. Er führt dies auf drei Themenkomplexe zurück: erstens die (Selbst-)Verpflichtung der Justiz, ``dem Geisteszustand der Angeschuldigten Rechnung zu tragen''\footcite[S.~242]{germann}, zweitens der Sensibilisierung der Justiz für psychiatrische Deutungen und die entsprechende Zuziehung medizinischer Expertise und drittens die zeitgemäße Anwendung von ``Sicherungsmaßregeln'', die durch die grundsätzlich unbefristete Gültigkeit der Urteile einen institutionellen Zugriff auf psychiatrische Angeklagte erst ermöglichte und im Vergleich zu regulären Strafen mit festem zeitlichem Rahmen eine effizientere ``Verbrechensbekämpfung'' versprachen. In der Umbruchsituation % TODO: ref sozialvers./lehre/kliniken engstromroelcke der psychiatrischen Lehre geriet die gutachterliche Tätigkeit der Ärzt*innen ebenfalls unter Kritik, Engstrom weist sogar auf die Untergrabung des Vertrauens in die Unabhängigkeit der Justiz im Zusammenhang mit psychiatrisch unzureichend ausgebildeten praktischen Ärzt*innen hin. Allerdings bestand lange Zeit kein Konsens, ob die Ausbildung ausgeweitet werden oder Gutachten nur noch von Spezialist*innen abgefasst werden sollten.\footcite[S.~123]{engstrominstruction} Als stellvertretend für das große Interesse beim Fachpublikum kann wohl der Erfolg der Werke Neumanns zur ``Blödsinnigkeitserklärung'' 1847 und 1860 genannt werden.\footnote{\cite[S.~17, S.~21]{henseler}; \cite[]{neumann1847}; \cite[]{neumann1860}} % \footcite[S.~17 {\em Der Arzt und die Blödsinnigkeitserklärung}, Breslau 1847, und S.~21 {\em Theorie und Praxis der Blödsinnigkeitserklärung}, Erlangen 1860]{henseler}\fnsep\footnote[]{neumann1860} Roelcke weist auf die besondere Stellung der Psychiatrie hin, die mit zunehmender Verankerung im universitären Bereich auch in der Öffentlichkeit an Bedeutung gewinnt. Mit der Selbstsicherheit der Institutionalisierung und Professionalisierung wuchs umgekehrt auch die Nachfrage nach Antworten von Seiten der Psychiatrie und einer Anwendung ihrer Expertise als Gutachter*innen bei Gericht, als Expert*innen in politischen Gremien und in der Öffentlichkeit. Dies war auch auf die wahrgenommene Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaft durch die Arbeiter*innenklasse auf der einen Seite und durch eine auf Bismarck zurückgehende Verbindung von Politik und Großindustriellen zurückzuführen.\footcite[S.~78f]{roelcke2018} In diesem Spannungsgebiet erwachsen den Psychiater*innen Kompetenzen über die traditionelle Diagnostik und Therapie etwa von ``Wahnsinn'' oder ``Irresein'' hinaus, ihre Expertise ist zunehmend auch in weiter gefassten Bereichen gefragt. Im besonderen wird die Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch ``Irre'' angeführt, ebenso die Frage nach der Überlastung/Überbürdung sowie das in der gesellschaftlichen Wahrnehmung stark zunehmende Problem der sexuellen Nötigung und Delinquenz.\footcite[S.~79]{roelcke2018} \subsection {Gesellschaft, Psychiatrie und neue Krankheiten: Neurasthenie und Degeneration} % Neurasthenie? Kaum juristisch relevant ... ^ -> eigenes Kapitel v Nicht nur im Bereich der Justiz zeigt sich die neue Deutungsmacht der Psychiatrie mit dem Aufstieg des Bürger*innentums im 18.~Jahrhundert. Obwohl manches nicht therapiert werden kann, gewinnt die neue Profession an Gewicht und schafft Erklärungsmodelle für gesellschaftliche und persönliche Probleme, die sich an der zeitgenössischen Forschung orientieren. Im Jahr 1869 wurde von dem Neurologen und Elektrotherapeuten George M.~Beard der Begriff der ``Neurasthenie'', bisweilen auch ``Nervenschwäche'' eingeführt, der sich auf die kürzlich entdeckte elektrische Natur der Nervenleitung berief. 1880 veröffentlichte Beard eine Monographie zu der neuen Krankheit, und dank Übersetzungen war die ``Neurasthenie'' auch im Deutschen bestens bekannt.\footcite[S.~112]{roelckekk} Die Theorie basierte darauf, dass die moderne Gesellschaft und besonders das Stadtleben die ``Energie'' der Neuronen verringerte und damit zu Ermüdungszuständen führte. Sie verband wissenschaftlich die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit nach Helmholtz mit der Entdeckung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik (Energieerhaltung) und fand damit eine sehr positive Rezeption, Roelcke schreibt pointiert von der ``Elektrifizierung'' des Nervensystems und den Auswirkungen auf Neurologie, Psychiatrie und Gesellschaft.\footcite[S.~101ff]{roelckekk} Mit dem Konzept der Erschöpfung von außen, also einer Wirkung der Umwelt auf den Menschen, war eine Ätiologie geschaffen. Durch Entfernen der ermüdenden Umstände im Sinne einer ``rest-cure'' war eine vollständige Erholung möglich, es bestand also nicht die Gefahr des Stigmas, das eine chronische Krankheit mit sich gebracht hätte. Auch die örtliche Zuordnung zu den Zentren des gesellschaftlichen Lebens und ein prominenter Personenkreis trugen zu einer breiten Akzeptanz der Diagnose bei. Hochgestellte Personen, Wissenschaftler*innen, Ärzt*innen, Künstler*innen befanden sich also in guter Gesellschaft, wenn sie eine vorübergehende Erholung von den Verpflichtungen in der Gesellschaft benötigten. Zeitgenössische Kunst wurde einerseits als Effekt von gesellschaftlichen Anspannungszuständen empfunden, andererseits wurde auch ein Einfluss dieser Kunst auf die Psyche angenommen, der sich in erhöhter Reizbarkeit und Empfindlichkeit und damit ``Neurasthenie'' äußerte. In diesem Kontext wurden etwa impressionistische Bilder, die Musik Richard Wagners, Liszts, französische Avantgardist*innen oder sozial-realistische Ausformungen des Naturalismus gesehen.\footcite[S.~80ff]{roelcke2018} Ende des 19.~Jahrhunderts, ab etwa 1895 und verstärkt im 20.~Jahrhundert machten sich allerdings Zweifel am Konzept der ``Neurasthenie'' breit. So beklagte unter anderem Emil Kraepelin, dass die Diagnosekriterien unscharf seien und die Kurkosten für die erst kürzlich etablierten Kranken- und Pensionsversicherungsanstalten ungebührliche Belastungen darstellten. Außerdem vermutete er eine erbliche Komponente, die bei Beards ursprünglichem Konzept nicht vorkam. Roelcke führt dazu an, dass dies auch einem gesellschaftlichen Wandel entsprach: während um 1880 ein wirtschaftlicher Aufschwung wahrgenommen wurde und neben der Expansion der Medizin allgemein ein tiefer Fortschrittsglaube herrschte, wich dieser um 1900 dank Wirtschaftskrisen und einer Verquickung der Politik mit dem preußischen Landadel einer weniger optimistischen Weltsicht. Bürger*innen und damit Ärzt*innen sahen ihre Möglichkeiten zur Partizipation schwinden, die deutsche Kultur und Nation schien manchen in Gefahr. Auch die Religion hatte nicht alle Antworten und schien an Bedeutung zu verlieren. Auch die Entstehung von Soziologie und Religionswissenschaft ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Dazu kam eine Wahrnehmung stetig zunehmender sozialer Abnormität und sexueller Aberration bis hin zur Delinquenz.\footcite[S.~83]{roelcke2018} Die ``Degeneration'', auch ``Entartung'' schien das Konzept der Stunde zu sein und konnte viele Probleme erklären. Der Begriff ging auf Bénédict Morel (1809 -- 1873) zurück, der ihn in seiner medizinisch-psychiatrischen Bedeutung erstmals 1850 verwendet hatte. Er stand für einen Prozess des fortschreitenden und erblichen Verfalls, der die ``Erbsubstanz'' zunehmend schädigte und die Gesellschaft gefährdete. Wie bei der Neurasthenie waren Diagnose von Person und Gesellschaft eng verknüpft. Bei ersterer war jedoch die Umgebung Auslöser, hier schien das Gegenteil der Fall.\footnote{\cite[S.~83]{roelckekk}; \cite[p.~65, p.~86]{morel1852}} Ein entscheidendes Merkmal bei Morel war die Progression über die Generationen.\footcite[S.~85]{roelckekk} Allerdings ging er von einer verringerten Fruchtbarkeit aus, was die Ausbreitung von selbst limitiert hätte.\footnote{\cite[S.~391]{roelcke1997}; \cite[p.~232, p.~256, p.~333]{morel1852}} Das Konzept fand auch bei Griesinger Widerhall, der in seinem Lehrbuch bereits einen großen Teil von erblichen Psychopathologien postulierte. In seiner ``Eröffnungsvorlesung'' weist er auf die Wichtigkeit der ``Hereditätsverhältnisse'' % 108 hin und teilt die Nervenkrankheiten in Bezug auf Aetiologie und Pathologie in ``[erworbene,] zufällig entstandene Hirnkrankheiten'' ohne ``ursprüngliche Grundlage'' und jene ``psychischen Prozesse [..., die] von Geburt an determiniert gewesen sind.''\footcite[S.~109]{griesinger1866} Dabei beruft er sich ausdrücklich auf Morels Konzept. Er setzt aber nur eine ``hereditäre Constitution'' voraus und nicht die Vererbung von erworbenen Zuständen und über Generationen zwangsläufig progressive Verschlechterung. Seine Vorstellung lässt also durchaus Raum für die reversible bzw. ``primäre Neurasthenie'', auch wenn er erblich eine erhöhte Anfälligkeit sieht.\footcite[S.~90ff]{roelckekk} Wie einige Jahre zuvor die ``Neurasthenie'' fand gegen Ende des Jahrhunderts auch das neue Krankheitsbild großen Widerhall in Kunst und Kultur, es wurde nachgerade modern, Kunstwerke nach ihrer ``Entartung'' zu klassifizieren und Künstler*innen zu pathologisieren, Roelcke nennt hier Max Nordau, der bereits 1892 ein gleichnamiges zweibändiges Werk publizierte. Eine Folge war die Begründung einer psychiatrischen Genetik durch Kraepelin und seinen Schüler Rüdin. Die ``Neurasthenie'' erfuhr einen endgültigen Bedeutungswandel, sie wurde vom ursprünglichen elektrophysiologischen Konzept losgelöst. Die ``sekundäre Neurasthenie'' war als Degenerationsprozess progressiv und erblich, auch wenn ein Einfluss von etwa Alkohol oder Syphilis möglich war. Sie war zwar noch mit den Reizen von Umwelt und Gesellschaft verknüpft, aber nur so weit, als das Individuum diese Reize durch ``Degeneration'' nicht mehr hinreichend abhalten konnte. Die Erblichkeit legte einen möglichen Lösungsweg nahe: die Reproduktion. Roelcke schreibt dazu: ``Die Fortpflanzung der `Degenerierten' und somit biologisch `Minderwertigen' konnte durch Kasernierung, Eheverbote oder auch Sterilisation verhindert werden; komplementär konnten Anreize zur Fortpflanzung von `hochwertigen' Individuen zur Verfügung gestellt werden.''\footnote{\cite[S.~83ff]{roelckekk}; \cite[S.~389]{roelcke1997}} Heinz Schott weist an anderer Stelle auf die Bedeutung von Cesare Lombroso hin, der in ``L'Uomo delinquente'' 1876 Kriminalität und sexuelle Abweichung als Zeichen der erblichen Degeneration sieht. Schott erklärt daraus auch antisemitische Vorurteile mancher Psychiater*innen.\footcite[S.~103]{schott2002} Wilhelm Erb schlägt etwa 1890 vor, Lichtheim in die Redaktion der neuen ``Deutschen Zeitschrift für Nervenheilkunde'' aufzunehmen, um dem Vorwurf des Antisemitismus zuvorzukommen. 1912 schimpft er in einem Brief an A.\,V.\,Struempel auf die ``semitischen Streber'' Lewandowsky und Alzheimer und befürchtet eine ``Verjudung'' der Neurologie, während F.\,R.\,Schultze an denselben schreibt, dass die Neurologie ``immer semitischer wird,'' weswegen er auch nicht mit K.\,Mendel arbeiten möchte, weil der ansonsten bald ``Centralblatt'' und ``Zeitschrift'' dominieren würde.\footcite[S.~195f,346ff]{peiffer} % TODO: ist die Zeitschr. neu? wer war Erb (W.ilhelm?) Lichtheim? -- anti-antisemitische AUfrufe v. Forel laut Wikipedia Der Antisemitismus wird gesellschaftlich durchaus wahrgenommen und mit Sorge betrachtet. Auguste Forel etwa, den Lombroso 1892 besucht, nennt diesen einen ``genialen Juden'' und schreibt, sein Vorgänger Hitzig in Burghölzli sei ``ein richtiger Jude, mit der unverbesserlichen Eitelkeit seiner Rasse behaftet.''\footcite[S.~160,99]{forelbio} % Forel Unterschriften gegen Antisemitismus Forel gilt als Humanist und Sozialist, er war gegen die Todesstrafe und betätigte sich auch antirassistisch, und doch vetrat er auch eugenische Positionen, weil er hoffte, dass dies der Menschheit nützen würde.\footnote{\cite[]{vonmont1}; \cite[]{vonmont2}; \cite[S.~435]{forelbriefe}; \cite[]{kuechenhoff}} Er starb 1931, seine liberalen Schriften waren in Nazideutschland verboten.\footcite[10]{edimuster} Auch Sigmund Freud begegnet 1873 an der Universität Antisemitismus, der ihn in seinem nonkonformistischen Denken wohl stärkt.\footcite[S.~38]{barth} \subsection {Kraepelins Methode} \begin{quote} ``{\it Kraepelin} bleibt uns aber auch Lehrmeister durch die Art, wie er forscht. Er hält stets Tuchfühlung mit dem Feind; niemals verliert er den Kranken aus den Augen. Nicht so sehr, weil er dem einzelnen Kranken besonders zugeneigt ist. Nein, er blickt unverwandt auf die Krankheit, die den Menschen seiner Würde als Einzelner entkleidet und ihn gleichzeitig so sehr vereinzelt, daß er an der allen gemeinsamen Welt nicht mehr teilhaben kann. Nur auf der höheren Ebene einer allgemeinen Krankheitslehre ist das Ziel zu erreichen, auch den einzelnen Kranken in den göttlichen Stand des Individuums zurückzuleiten.''\footcite[S.~10]{kolle} \end{quote} Emil Kraepelin (1856 -- 1926) nimmt zweifellos im 19.\,Jahrhundert eine einzigartige Rolle in der Psychiatrie ein, sowohl in Bezug auf die politische und universitäre Selbstfindung als auch bezüglich der Intensität, mit der er nach Klassifikationskriterien für psychiatrische Störungen sucht. Er studiert in Leipzig bei Wundt und wird Assistent bei dem etwas jüngeren Paul Flechsig (1847 -- 1929), bei dem er auch als Assistent arbeitet. Die Zusammenarbeit endet im Konflikt, auch andere haben mit Flechsig ihre Probleme: Kraepelin erwähnt in einem Brief an Wundt seinen ebenfalls entlassenen Kollegen Lehmann, Vogt macht einige Jahre später in seiner Korrespondenz mit Auguste Forel seinem Ärger Luft, dass Flechsig beide ``in der gemeinsten Weise verleumdet'' hat, ähnlich Mädler, und selbst bei seiner Ablösung durch Bumke 1921 wirft ihm dieser unkollegiales Verhalten vor.\footcite[S.~184 Brief von Kraepelin an F.~W.~Hagen vom 19. 1. 1883; S.~229 Brief von Oskar Vogt an Auguste Forel Juli/August 1895; S.~257 Brief von M. Fürbringer an W. Waldeyer am 31. 12. 1899; S.~275 Brief von H. Mädler an Oskar Vogt vom 14. 2. 1904; S.~409 Brief von Oswald Bumke an Alfred Hoche vom 5. 3. 1921]{peiffer} Nach einigen Jahren in Dorpat (heute Tartu in Estland) als Nachfolger von Emminghaus erhielt er die Professur in Heidelberg.\footcite[219]{rihafischer} In seine Zeit dort von 1890 bis 1903 fällt die erste Auflage seines ``Compendiums'', die er mehrmals völlig neu überarbeitet.\footcite[]{kraepelin1883} Die Einführung der ``Dementia praecox'' erfolgt in der vierten Auflage des Lehrbuchs 1893. Diese taucht vorher bereits 1852 im französischen Sprachraum als ``démence précoce'' bei Morel auf sowie später im Deutschen bei Arnold Pick in Prag. Allerdings bezog sich Morels Definition auf eine Erkrankung im frühen Lebensalter, also vergleichbar Kahlbaums ``Hebephrenie'' (Kapitel \ref{ch:kahlbaumzeit}).\footnote{\cite[S.~435]{kraepelin1893}; \cite[p.~282, p.~361]{morel1852}; \cite[p.~428]{adityanjee}; \cite[p.~162]{alexander}} Die ``Dementia praecox'' geht später nach Eugen Bleulers Vorschlag im Wesentlichen im Konzept der Schizophrenie auf, siehe auch Kapitel \ref{ch:endogenepsychosen2}.\footcite[S.~436ff]{bleulere1908} Auch die Aufteilung der endogenen Psychosen in die manisch-depressiven Erkrankungen und die ``Dementia praecox'' in der sechsten Auflage 1899 geschieht noch in Heidelberg.\footnote{\cite[S.~30ff]{kolle}; \cite[S.~137, S.~159]{kraepelin62}} Auch wenn sie für seine unmittelbare Arbeit nicht zentral ist, kommt Kraepelin auf Wundts Experimentalpsychologie immer wieder zurück. Als Anstaltsleiter richtet Kraepelin bald nach seiner Übernahme der Heidelberger ``Irrenklinik'' durch Umstrukturierung zwei Räume für experimentalpsychologische Untersuchungen ein\footcite[S.~53]{engstrom1998}, beklagt aber, Wundts Methoden im Klinikalltag kaum anwenden zu können\footcite[S.~145]{steinberg}. In einem lebenslangen Briefwechsel % TODO: REF!! Briefe??? mit seinem Lehrer bedauert er wiederholt, dass diese für seine tägliche Arbeit und wissenschaftliche Methode eine untergeordnete Rolle einnehmen. Die auf physiologischen Versuchen basierende Methode ist wohl ausschlaggebend für seinen Zugang zur Psychiatrie, der auf drei Grundlagen basiert: Krankheitsursachen, Hirnpathologie und klinische Analyse. Da die ersten beiden noch nicht hinreichend erforscht sind, konzentriert er sich auf die Klinik und legt großen Wert auf die strukturierte Erfassung der Krankengeschichten mittels ``Zählkarten'', welche er seinen Fragestellungen entsprechend modifiziert. Diese gehen wohl auf die beim internationalen Psychiater*innenkongress 1867 geplanten, in Fachkreisen umstrittenen Zählblätter\footcite[S.~173f]{roelckeunterwegs} zurück. Dabei ruht das Hauptaugenmerk auf körperlichen Aspekten und objektiv beobachtbaren Phänomenen, weniger auf psychischen wie Wahn und Halluzinationen. Ätiologisch kommt nur ``erblich'' oder ``andere Ursachen'' in Frage. Biographische Darstellungen, soziale Beziehungen, Familie und die eigene Wahrnehmung der Patient*innen finden keinen Platz.\footnote{\cite[S.~186]{roelckeunterwegs}; \cite[S.~158f]{roelckekk}; \cite[S.~108]{roelcke1999g}} % es gibt ``keinen eigens vorgesehenen Raum fuer eine Darstellung der Biographie des Patienten aus eigener Perspektive, oder für Beziehungen innerhalb der Familie.'' Die statistischen Methoden aus Wundts psychologischem Unterricht sind ihm dabei sehr hilfreich, dennoch bedauert nicht nur er die vergleichsweise geringe Zahl der Fälle, auch sein Vorgänger Eduard Hitzig schließt sich dieser Kritik an. Laut Eric Engstrom wurden von 1890 bis zur fünften Auflage seines Lehrbuches 1896 etwa 1000 Fälle in Zählkarten dokumentiert.\footcite[S.~65]{engstrom1998}. Hier tut sich ein weiteres Spannungsfeld im Wirken Emil Kraepelins auf: sowohl vom Versorgungsauftrag als auch seinem Bedürfnis nach wissenschaftlicher Sorgfalt her wünscht er sich in Heidelberg mehr Aufnahmen. Seine Klinik ist auch als Akutstation für Neuerkrankte konzipiert, um diesen eine rasche Besserung zu ermöglichen. Die ständige Überbelegung führt jedoch zu verspäteten Aufnahmen, sodass Kraepelin bedauert, dass er die Frühphasen nicht zu seiner Zufriedenheit dokumentieren kann\footcite[S.~63]{engstrom1998}. Die hohe Zahl an Aufnahmen führt andererseits zu Konflikten mit den Pflegeanstalten in Emmending und Pforzheim, da chronisch Kranke alsbald an diese überwiesen werden müssen.\footcite[S.~59]{engstrom1998} Während Kraepelin dem Ministerium gegenüber erreicht, dass die Zählkarten an seiner Anstalt bleiben können, ist es durch diese Probleme für ihn schwierig, den weiteren Krankheitsverlauf seiner Patient*innen durch Besuche dort zu verfolgen. Angesichts dessen erstaunt es auch nicht, dass seine Bemühungen scheitern, die Aufnahmerichtlinien dahingehend abändern zu lassen, dass eine freiwillige Aufnahme für Patient*innen in der Heidelberger Universitätsklinik möglich wird und psychisch auffällige Straftäter*innen auch von der Exekutive rasch in seine Klinik überstellt werden können.\footcite[S.~57]{engstrom1998} Als die Konflikte mit den auch für die Aufnahme zuständigen Pflegeanstalten Emmending und Pforzheim eskalieren und Kraepelins Forderung nach der Möglichkeit zur Forschung an der Universitätsklinik unabhängig vom ``staatlichen Versorgungssystem'' zu viele Jahre auf taube Ohren gestoßen ist, sieht sich Kraepelin 1903 gezwungen, die Leitung der Klinik abzugeben und geht 1903 nach München.\footcite[S.~62]{engstrom1998} Dort arbeitet er als Klinikleiter weiter an seinem Lehrbuch, die Paraphrenie führt er als Untergruppe der ``endogenen Psychosen'' 1913 ein, siehe Kapitel \ref{ch:endogenepsychosen} und \ref{ch:endogenepsychosen2}. % TODO: Kraepelin in München. Lehrbücher Neben den umfangreichen Tätigkeiten an Klinik und Lehrstuhl kommt Kraepelin 1910 im Auftrag der k.\,u.\,k. Gesundheitsbehörde auch nach Wien, wo er schwere Mängel an der psychiatrischen Klinik feststellt, sowohl in Bezug auf die Überbelegung als auch die Anwendung von Zwangsmaßnahmen.\footcite[S.~73]{haefner}