\section*{Einleitung}\label{ch:einleitung} % starred* doesn't get a number, to still make it show up in TOC: \addcontentsline{toc}{section}{Einleitung} Die Diplomarbeit versucht, im Kontext der Entwicklung von psychiatrischen Klassifikationssystemen ab der zweiten Hälfte des 19.\,Jahrhunderts die Verwendung des Begriffs ``Paraphrenie'' in zeitlich variierenden Bedeutungen bis ins frühe 20.\,Jahrhundert auszuloten. Als historisches Umfeld werden dabei die Vorgänge und Veränderungen in Unterricht und Praxis der Medizin in Bezug auf die Psychiatrie einbezogen. Im engeren Sinn wird auch die Argumentation zur begrifflichen Verwendung von Dementia praecox und Schizophrenie herausgearbeitet, die im unmittelbaren Zusammenhang mit jener der Paraphrenie stehen. Insbesondere wird auch so weit wie möglich aufgezeigt, welche Annahmen einerseits zu den verschiedenen Verwendungen führten und wie umgekehrt Begriffe auch damals den psychiatrischen Alltag beeinflussten. Schlussendlich wird die Kontroverse um die Paraphrenie und schließlich nach 1914 ihr Verschwinden zumindest als eigenständige Krankheitseinheit beschrieben. Der Vollständigkeit halber wird auch die weitere Verwendung des Begriffs Paraphrenie im 20.\,Jahrhundert kurz erfasst. Ein Abriss der vielschichtigen Entwicklung der Psychiatrie in der zweiten Hälfte des 19.\,Jahrhunderts erscheint im \hyperref[ch:psychiatrie19]{\bf Kapitel~\ref{ch:psychiatrie19}}. Seit dem Beginn des 20.\,Jahrhunderts beschäftigten sich viele Publikationen mit dem Thema der Entwicklung einer eigenständigen Psychiatrie im Spannungsfeld zwischen Psychologie, Medizin und Politik. Dies erfordert eine Loslösung von Psychologie und Hirnforschung sowie eine Etablierung eigenständiger Kliniken an den medizinischen Fakultäten. Politisch macht sich die Psychiatrie unentbehrlich, weil das ``Irrenwesen'' % \footnote{ (die damals üblichen Bezeichnungen ``Irre'', ``Irrenwesen'', ``Irrenhaus'', ``Irrenstatistik'' usw. werden im historischen Kontext in Anführungszeichen gesetzt und unverändert verwendet, siehe auch \hyperref[ch:disclaimer]{Kapitel~\ref{ch:disclaimer}}) %} % TODO: footnotes with pandoc?? umorganisiert wurde und für die Machthaber*innen damit eine Statistik, diagnostische Instrumente und Hoffnungauf Therapien zunehmend wichtiger wurden. Als Grundlage für diese Arbeit dienten dabei besonders die Schriften von Volker Roelcke\footcite[S.~389ff]{roelcke1}\footcite[S.~93ff]{gradmannschlich} und Eric J. Engstrom\footcite[]{engstrom1998}. Als hilfreiche Quellen erwiesen sich auch einige publizierte Briefe, etwa die von Jürgen Peiffer herausgegebenen zur Entwicklung der Hirnforschung im Widerstreit mit der ``psychologischen Richtung'' samt Kommentar.\footcite[S.~220]{peiffer} So findet sich dort etwa ein Brief von Oskar Vogt (1870 -- 1959) an Auguste Forel (im Deutschen meist August Forel; 1848 -- 1931) vom 15. 8. 1894, wo er einen ``Disput'' mit Emil Kraepelin (1856 -- 1926) erwähnt, der meint, die Hirnlokalisationstheorie hätte der Psychologie geschadet, würde lange Zeit für sie wertlos sein und kenne nur motorische und sensorische Zentren, aber keine psychischen.\footcite[298]{forelbriefe} Andererseits wird auch auf die zunehmende Bedeutung von Psychotherapie und Psychoanalyse im historischen Kontext ergründet und der Einfluss, welchen ihre Vertreter*innen in Bezug auf die Entstehung einer eigenständigen Psychiatrie hatten. Karl Jaspers stellt dabei ``Abreagieren'' und ``Beichten'' in den Vordergrund und erwähnt 1920 explizit die Psychoanalyse\footcite[S.~397]{jaspers1920}. Nach Volker Roelcke sind vor allem drei Ursachen für die vielschichtige und nachhaltig wirksame Entwicklung der Psychiatrie ab 1870 zu nennen. Dies sind erstens die Notwendigkeit einer ``Irrenstatistik'' durch die Veränderung in der politischen und finanziellen Verantwortung für die ``Irren'', zweitens der damit gekoppelte Anspruch an die Medizin im Allgemeinen und die Psychiatrie im Speziellen, ``Irre'' mit einer gewissen Prognosesicherheit in Bezug auf Krankheitsverlauf und möglichen Behandlungserfolg zu diagnostizieren. Drittens ergibt sich daraus das Reformprogramm, das sich in einer zunehmend in den medizinischen Curricula verankerten psychiatrischen Grundausbildung äußerte und einerseits die Einbeziehung der praktischen Ärzt*innen in die diagnostische (ursprünglich auch gutachterliche) Tätigkeit bezweckte, andererseits auch die Forschung durch sukzessive Einrichtung von Lehrstühlen anregen sollte\footcite[S.~169-188]{roelckeunterwegs}. Dieser Prozess, in dem besonders die Person Emil Kraepelins eine zentrale Bedeutung einnimmt, wird auch im {\bf \hyperref[ch:paraphrenie]{ dritten Kapitel}} weiter erläutert, das sich mit den verschiedenen Verwendungen des Begriffs der Paraphrenie auseinandersetzt. Besonders wird hier auf das wissenschaftliche Selbstverständnis Kraepelins eingegangen. Er war zeitlebens von der Arbeit seines Lehrers Wilhelm Wundt (1832 -- 1920) beeindruckt, dessen Experimentalpsychologie lange Zeit seine Forschungen beeinflusste. Der Briefwechsel der beiden zeigt auch Kraepelins Werdegang und Motivationen auf.\footcite[]{steinberg} % Als Anstaltsleiter richtet Kraepelin bald nach seiner Übernahme der Heidelberger ``Irrenklinik'' durch Umstrukturierung zwei Räume für experimentalpsychologische Untersuchungen ein\footcite[S.~53]{engstrom1998}, % beklagt aber, Wundts Methoden % im Klinikalltag kaum anwenden zu können\footcite[S.~145]{steinberg}. % Statt dessen erhofft er sich wissenschaftliche Erkenntnisse von einem hohen % Patient*innendurchsatz\footcite[S.~67]{engstrom1998} und einer Vereinheitlichung der % Notation in Form von Zählkarten\footcite[S.~64f.]{engstrom1998}, welche wohl auf die beim internationalen Psychiaterkongress 1867 % geplanten, in Fachkreisen umstrittenen % Zählblätter\footcite[S.~173f]{engstromroelcke} zurückgehen. Bis 1896 (zur fünften Auflage % seines Lehrbuchs) hat Kraepelin an die 1000 Fälle auf diese Art % dokumentiert, was jedoch nicht nur seiner Ansicht nach zu wenig ist, % sondern auch die Kritik seines Zeitgenossen Eduard Hitzig nach sich % zieht. Sodann wird die Verwendung des Begriffs ``Paraphrenie'' dokumentiert, insbesondere die Herkunft aus dem Griechischen über das Französische und die vermutlich erstmalige Verwendung im deutschen Sprachraum bei Kahlbaum samt Überblick über seine Lehre. Anhand des Textes von Rafael Katzenstein wird ausgehend von den psychiatrischen Lehren am Beginn der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts der Kontext von Karl Ludwig Kahlbaums Krankheitslehre beleuchtet. Kahlbaum verwendete die Bezeichnung ``Paraphrenia'' in seiner in fünf Bereiche geteilten psychiatrischen Krankheitslehre 1863 erstmals für Psychosen, welche in Zeiten der mentalen Veränderung auftraten. % Dieser Begriff stand neben der ``Vesania'', abgeleitet von der % Einheitspsychose seiner Zeit, ``Vecordia'' als einer idiopathischen % Seelenstörung von subtotalem Ausmaß, ``Dysthymia'' als Namen für % eine Krankheit, welche sich überwiegend durch Zustandsbilder der % Melancholie manifestiert, und ``Diastrephia'' für eine Störung in der % Willensbildung und Handlungsexekution\footcite[S.~16ff]{katzenstein}. Allerdings hinderten einige Faktoren den Erfolg seines Werkes: Katzenstein macht dafür seinen ``umständlichen'' Stil, die Vielzahl an neuen Begriffen und das neue Konzept einer Auftrennung von Krankheitseinheiten (vergleichbar mit Symptomen) und Krankheiten verantwortlich\footcite[S.~37]{katzenstein}. Darunter litt die Rezeption des Lehrbuchs, sodass die Nomenklatur wieder in Vergessenheit geriet. Emil Kraepelins Verwendung der ``Paraphrenie'' stellt also eine Wiederentdeckung des Begriffes dar. Ihm geht es dabei um eine % im späteren Lebensalter auftretende Form von ``endogener Psychose'' mit einer Abwesenheit von Negativsymptomen. Die Einordnung verändert sich dabei in verschiedenen Auflagen seines Lehrbuchs etwas. Der Begriff kommt erstmals in der achten Auflage 1913 als eine Krankheit vor, welche sich durch eine Abwesenheit der Negativsymptome auszeichnet, bei der also ``selbständige Willensschädigungen'' und namentlich auch ``gemütliche Verblödung'' fehlen oder doch nur schwach angedeutet sind. Diese steht in der Gruppe der endogenen Psychosen neben der ``Dementia praecox''. So schreibt Kraepelin bei der erstmaligen Verwendung in der achten Auflage 1913: ``Bei dieser Umgrenzung scheint mir der sonst heute nicht mehr gebräuchliche Ausdruck `Paraphrenie' fuer die Benennung der hier versuchsweise vereinigten Krankheitsformen einstweilen geeignet zu sein.''\footcite[S.~668]{kraepelin8} Offenbar kurz vor Kraepelin verwendete aber auch Sigmund Freud (1856 -- 1939) den Begriff ``Paraphrenie'', und zwar als Synonym für die Schizophrenie, weil er sowohl diesen Begriff als auch die sachlich verwandte ``Dementia praecox'' als etymologisch unsinnig empfand. Widmer zitiert unter anderem Freuds ``Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)'' (1911), in dem dieser sich mit der 1903 erschienenen Autobiographie des Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber auseinandersetzt\footcite[S.~81]{widmerschmid}. % TODO: Freud bis Bleuler?? Als Endpunkt für den Kernteil der Arbeit dient aus mehreren Gründen das Jahr 1914: einerseits verschwindet ab dieser Zeit die Paraphrenie als scharf abgegrenzter Begriff aus den Lehrbüchern und geht gemeinsam mit der ``Dementia praecox'' in Bleulers Schizophrenie auf, andererseits nehmen im ersten Weltkrieg andere Aspekte wie die das ``Kriegszittern''\footcite[S.~228]{hofer} mehr Präsenz im psychiatrischen Diskurs ein. Der Einfluss der neuen Wiener Schule und insbesondere Theodor Meynerts (1833 -- 1892) wird in \hyperref[ch:meynert]{\bf Kapitel~\ref{ch:meynert}} ergründet. Dieser war 1874 -- 1892 als Primarius der ersten und später der zweiten psychiatrischen Klinik in Wien tätig. Während seine Lehre viele Kritiker*innen fand, ist der Beitrag zur Psychiatriegeschichte sowohl fachlich als auch menschlich unumstritten. Unter seinen Schüler*innen finden sich viele bekannte Namen wir Sigmund Freud, Carl Wernicke (1848 -- 1905) und Auguste Forel, und in seinem Haushalt gingen Künstler*innen, Philosoph*innen und Wissenschaftler*innen ein und aus. Das Kapitel versucht, einen Zusammenhang seiner Person, seines Werkes und seines Umfeldes mit der Einteilung der endogenen Psychosen und eventuell der Paraphrenie zu finden. Im \hyperref[ch:ausblick]{\bf Kapitel \ref{ch:ausblick}} wird nach der Kontroverse um die ``Paraphrenie'' 1914 die weitere Verwendung des Begriffs im 20.\,Jahrhundert kurz erfasst, vor allem anhand der Schriften von Eugen (1857 -- 1939) und Manfred Bleuler (1903 -- 1994), von Lehrbüchern, von verschiedenen Versionen moderner diagnostischer Manuale sowie von Publikationen der letzten Jahrzehnte. Zusammenfassende Betrachtungen über Inhalt und Thematik sollen schließlich im {\bf \hyperref[ch:schluss]{Schlusskapitel}} Erwähnung finden. \newpage \subsection{Genderaspekte des Themas } In der Arbeit werden durchgängig geschlechtsneutrale Formen verwendet, um kein Geschlecht zu diskriminieren, unabhängig von den beteiligten Personen. Nach Namen und Zahlen waren in den psychiatrischen Kliniken des 19.\,Jahrhunderts kaum weibliche Ärztinnen tätig, zur Studiensituation siehe unten. Es gibt jedoch mehrere Gründe, dennoch nicht nur Männer zu nennen, etwa linguistische, % REF Luise Pusch genetische, % REF Intersex/LGBTIQ* soziale % REF Gleichstellung/BM... und durchaus auch faktische. % TODO: feministische? \hyperref[ch:genderparaphrenie]{Kapitel~\ref{ch:genderparaphrenie}} beinhaltet einen kurzen Abriss über die Geschlechterverhältnisse in der Diagnose paraphrenoider Krankheitsformen bei verschiedenen Autor*innen. \subsubsection{Frauenstudium im deutschen Sprachraum vor 1900} Die Zahl der offiziell weiblichen promovierten Ärztinnen in Europa war im 19.\,Jahrhundert gering, was aber nicht notwendigerweise am mangelnden Interesse, sondern an der Gelegenheit zum Studium lag: in Deutschland war das Studium im Kaiserreich an das Abitur gebunden, welches Frauen bis 1901 nicht regulär ablegen konnten.\footcite[S.~2, 116]{schlueter} Einzelne Frauen erlangten ausnahmsweise die Gelegenheit, dieses als Externe abzulegen, andere studierten in der Schweiz. Es gab damit einige wenige weibliche Absolventinnen und sogar zwei Ordinariae deutscher Hochschulen in dieser Zeit, dies scheint jedoch an keiner medizinischen Fakultät der Fall gewesen zu sein. Der Pathologe Carl Weigert (1845 -- 1904) schreibt etwa in einem Brief von 1898 noch an den Anatomen Gustaf Magnus Retzius (1842 -- 1919) vom Engagement seiner Frau für die Aufnahme von Mädchen in Gymnasien.\footcite[S.~251 Brief von Weigert an Retzius vom 31.\,12.\,1898]{peiffer} Auch der Anatom und Neurologe Ludwig Edinger (1855 -- 1918) wendet sich später an diesen, um Kontakt der beiden in der Frauenbewegung aktiven Gattinnen anzuregen.\footcite[S.~271 Brief von Edinger an Retzius vom 5.\,5.\,1903]{peiffer} Dieses Problem ist wohl in gewissem Sinne als Zuspitzung in Deutschland zu sehen, nachdem etwa mit Dorothea Christiane Erxleben (1715 -- 1762) bereits im 18.\,Jahrhundert 1754 eine Ärztin promoviert worden war.\footcite[S.~29]{markau} Ilse Costas nennt dazu das ``lückenlose Berechtigungswesen'' im Kaiserreich Deutschland ab 1871, das Frauen den Zugang zur höheren Bildung verwehrte.\footcite[S.~116]{costas} Wie Elke Schuster beschreibt, war die Situation in Österreich nicht viel besser: in den 1870ern wurden immer wieder Frauen als externe Hörer*innen zugelassen, wenn Professor*innen und Fakultät zustimmten. Im Mai 1878 erging allerdings eine ministerielle Verordnung, die unter anderem klarstellte, dass mit seltenen Ausnahmen ``mindestens der höhere Unterricht stets unter Trennung der beiden Geschlechter erteilt wird''. Im September des selben Jahres wurde weiters präzisiert, dass eine Ablegung der Maturitätsprüfung möglich, aber keine ausreichende Berechtigung für ein Hochschulstudium sei. Diese Verordnung führte zu einer Verringerung der Zahl der weiblichen Hörerinnen bis in die 1890er, als zwei Kommissionen an den philosophischen Fakultäten der Universitäten Wien und Graz mit Stellungnahmen zu dem Thema beauftragt wurden. Diese Entwicklung ging nicht zuletzt auf wiederholtes Urgieren mehrerer Vereine für Frauenbildung im Abgeordnetenhaus zurück. Die Kommissionen kamen zwar zu unterschiedlichen Ergebnissen, letztlich kann sich aber das Ministerium den Zeichen der Zeit nicht völlig verschließen. Nachdem auch Ungarn 1895 bereits Frauen allgemein zum Studium zugelassen hatte, kam vom österreichischen Kultusministerium 1896 die Zulassung zur Maturitätsprüfung und eine Nostrifizierungsmöglichkeit für im Ausland erworbene Doktor*innendiplome. Elke Schuster zeigt, wie aus den Sitzungsprotokollen deutlich der Vorbehalt gegen eine berufliche Konkurrenz für die männlichen Absolventen in verschiedenen Berufssparten befürchtet wurde, so etwa bei Pharmazie.\footcite[S.~30ff]{schuster} % gender Sonia Horn zeigt in einem Vortrag 1994, dass vor der Neuordnung des Studiums durch van Swieten Hebammen ebenso wie andere medizinische Berufsgruppen etwa nach einer Lehrzeit und Prüfung innerhalb der Zunft an der medizinischen Fakultät eine Prüfung ablegen mussten, auch die Sezierkurse waren eine Zeitlang für Hebammen geöffnet. Diese durften auch mit bestimmten Arzneimitteln eigenständig therapieren. Das Einkommen scheint dabei teilweise höher gewesen zu sein als das von studierten Ärzt*innen. Bis Mitte des 18.~Jahrhunderts traten aber auch einige Frauen zur Approbation an, die an anderen medizinischen Fakultäten promoviert hatten.\footnote{\cite[S.~76, S.~78ff]{horn1994}; \cite[S.~115]{horn1993}} Die Zahl der Intersexpersonen und bei der Geburt als weiblich zugeordneten Personen, die im 18.~Jahrhundert als Männer studierten, ist unbekannt. Stellvertretend sei auf Dr Joseph Barry hingewiesen, geboren ca.~1789 als Margaret Ann Bulkley, der als Mann in Edinburgh Medizin studierte und von 1812 bis zu seinem Tode 1865 unter anderem als Militärarzt in der britischen Armee arbeitete. Erst nach seinem Tode wurden seine weibliche Anatomie von der Haushälterin Sophia Bishop entdeckt.\footcite[S.~52]{SAMJ130} \subsubsection{Psychiatriegeschichte und Frauenstudium} Die Zahl der Ärztinnen im 19.~Jahrhundert war also gering, die der Psychiaterinnen geringer. % Dies soll nicht einer Betonung der Zweigeschlechtlichkeit dienen, sondern im Gegenteil Sex und Gender als fluide und vielseitig etablieren, um einerseits Transsexualität und Intersexualität nicht zu diskriminieren und andererseits Gender als sozialisierte, performative Kraft darzustellen. Gerade im Bereich der Hirnforschung waren aber einige als solche bekannte Frauen tätig, wenn auch teilweise ohne einschlägige Dissertation, etwa Cécile Mugnier\footcite[S.~486f]{personenlexikon} (1875 -- 1962), die später den Hirnforscher Oskar Vogt heiratete, und Auguste Klumpke\footcite[S.~519]{forelbriefe} (1859 -- 1927). Sie war Mitarbeiterin von Jules-Joseph Déjerine (1849 -- 1917) und mit diesem später als Auguste Déjerine-Klumpke auch verheiratet. Forel schreibt über sie: ``Ferner bekam ich noch den Besuch der hervorragenden Frau Professor Déjerine aus Paris, die als Aerztin mit ihrem Mann zusammen ein großes hirnanatomisches Buch herausgab. Sie zeigte großes Interesse an unserem Laboratorium und an unseren Arbeiten.''\footcite[S.~160]{forelbio} In anderen Ländern war die Situation offener: in den USA war ab 1833 Zugang zu teils koedukativen, teils reinen Frauencolleges gegeben,\footcite[S.~131]{schlueter} in einigen Kantonen der Schweiz mussten internationale Student*innen lange Zeit kein Abitur nachweisen, um zum ordentlichen Studium zugelassen zu werden. Zu den prominenten weiblichen Absolventinnen Züricher Unis zählten damals etwa Rosa Luxemburg (1871 -- 1919), Anita Augspurg (1857 -- 1943), Ricarda Huch (1864 -- 1947), Käthe Schirmacher (1865 -- 1930), Emilie Lehmus (1841 -- 1932), Marie Baum (1874 -- 1964), Ilse Frapan (geborene Elise Therese Levien, 1849 -- 1908), Franziska Tiburtius (1843 -- 1927) und Agnes Bluhm (1862 -- 1943), wie Anne Schlüter aufzählt.\footcite[S.~1]{schlueter} Darunter befanden sich auch viele Medizinerinnen. Als erste medizinische Dissertantin 1867 noch vor der ersten Schweizer Ärztin gilt Nadezda Suslova-Erismann (geb. \foreignlanguage{russian}{Надежда Прокофьевна Суслова}, 1843 -- 1918), welche später in St.\,Petersburg Gynäkologie praktiziert; es folgen ihr 1874 die Schweizerin Marie Vögtlin (später Heim-Vögtlin, 1845 -- 1916))\footcite[S.~386]{mueller} sowie 1875 Emilie Lehmus (1841 -- 1932) und 1876 Franziska Tiburtius, die danach in Berlin gemeinsam eine ``Polyklinik für Frauen'' eröffnen sollten, die erste Ärztinnenpraxis der Stadt. Auguste Forel schreibt in den Briefen an seine Mutter Pauline im Jahr 1867 von seiner Faszination für die Kommilitonin Frances Elizabeth Morgan (geborene Morgan, 1843 -- 1927), welche drei Jahre später promovieren sollte: ``Elle suit la clinique médicale, la clinique chirurgicale, un laboratoire de chimie (12 heures par semaine), les cours de chirurgie, pathologie spéciale, pathologie générale, un cours de \textit{sanscrit}, la chimie physiologique, le cours d'auscultation et percussion et une tasse d'autres que je ne sais pas, elle en a bien 50 -- 60 heures par semaine.''\footcite[S.~60f Brief Auguste Forel an Pauline Forel vom 25.\,4.\,1867]{forelbriefe} (Eigene Übersetzung: ``Sie besucht die Klinik für innere Medizin, jene für Chirurgie, ein chemisches Praktikum (12 Stunden pro Woche), die Vorlesungen aus Chirurgie und spezieller Pathologie, einen \textit{Sanskrit}-Kurs, die physiologische Chemie, einen Kurs für Auskultation und Perkussion und einige andere, die ich nicht weiß, sie macht gut und gerne 50 -- 60 Stunden pro Woche'') Ihre Defensio bleibt ihm in besonderer Erinnerung, bei der sie ihren Doktor*innenvater Biermer eine halbe Stunde und erfolgreich von seiner Ansicht abbringt, die progressive Muskelatrophie wäre eine Muskelkrankheit.\footnote{\cite[53]{forelbio}; \cite[40f]{wetley_forel}} % TODO: typos/orig; Dimock 1871??? In seiner Autobiographie führt er an, dass das Frauenstudium in Zürich auch durch die Wahl einer ``neuen, demokratischen Regierung'' 1869 begünstigt wurde, da diese auch dafür eintrat.\footcite[S.~53]{forelbio} Die ebenfalls dort studierende Amerikanerin Susan Dimock (1847 -- 1875) trifft Forel erst in Wien, wo er beim Klinikleiter Theodor Meynert dissertiert; ob diese sich ebenfalls für Hirnforschung und/oder Psychiatrie interessierte, war im Zuge der Recherchen nicht herauszufinden, ebensowenig wie weit eine Verbindung zu Sigmund Freud bestand. Jedenfalls verkehrte sie dort außer mit Forel und ihrer Studienkollegin Marie Bokowa (1839 -- 1929) auch mit dem Psychiater Carl Eugen Hoestermann (1847 -- 1928), der ebenfalls an der Klinik bei Meynert als Assistent arbeitete.\footcite[S.~395]{averbeck} Die vier bezeichneten sich als ``Wiener Quartett'', mehr dazu in Kapitel~\ref{ch:meynert}\label{wienerquartett}. Später arbeitete Dimock als Assistenzärztin an der Kinderabteilung des ``New England Hospital for Women and Children''. Sie ertrank bei einem Schiffsunglück am Weg zum Wiedersehen der vier\footcite[S.~487]{forelbriefe}, Auguste Forel wird ihr Nachruf in der ``Gazette de Lausanne'' zugeschrieben: \begin{quote} ``Si j'étais forcée d'opter comme médecin, disait-elle à ses élèves à Boston, entre les soins affectueux et sympathiques et la potion à donner à un malade, je sacrifieais la potion.''\footcite[S.~1-2]{foreldimock} (Eigene Übersetzung: ``Wenn ich gezwungen wäre, als Ärzt*in zwischen der sorgfältigen und hingebungsvollen Pflege und einem Medikament wählen müsste, würde ich eher auf das Medikament verzichten, sagte sie zu ihren Student*innen in Boston.'') \end{quote} Eine weitere Studentin Meynerts, Molly Miller von Aichholz (1844 -- 1887), hat das Medizinstudium niemals abgeschlossen. Sie findet aber in der von seiner Tochter Dora Stockert-Meynert verfassten Biographie Erwähnung nicht nur als Freundin der Familie, sondern auch als Mädchen, das ihm 1869 ``in einer seiner psychiatrischen Vorlesungen auffiel, weil sie angespannt mitschrieb. Damals trug sie den Plan, in Wien ein Musterkrankenhaus zu gründen.''\footcite[S.~86]{stockertmeynert} In Frankreich gelang es einigen wenigen Frauen, das Medizinstudium vor 1900 zu absolvieren. Felicia Gordon nennt einen Artikel, der 1905 in der ``Frauenzeitschrift'' ``La Vie Heureuse'' über acht ``‘Femmes Internes, Hôpitaux et Asiles'' berichtet\footcite[S.~321f]{feliciagordon}. In Gordons Publikation geht es um die beiden Psychiaterinnen Madeleine Pelletier (1874 -- 1939) und Constance Pascal (1877 -- 1937), die beide mit der offiziellen Zulassung nach den neuen Gesetzen ab 1903 Medizin studierten. Unter den acht beschriebenen sind jedoch mindestens zwei, die bereits im neunzehnten Jahrhundert praktizierten: Mlle Blanche Edwards (später Mme Edwards Pilliet, 1858 -- 1941), die 1885 an der Sorbonne studierte und dort bei Charcot über Lähmungen promovierte, sowie die weiter oben bereits genannte Auguste Déjerine-Klumpke. Gordon streicht die Schwierigkeiten mit den männlichen Kommilitonen heraus: % gender \begin{quote} ``The general reader of La Vie Heureuse would never have known of the struggles undergone by these women to overcome the barriers to a medical training, as externs and interns. Petitions and interviews running into the hundreds were necessary before the relevant authorities granted permission. Even so, when Blanche Edwards took the internship examination in order to be admitted to the medical faculty at the Sorbonne, she was burned in effigy on the Boulevard St Michel by outraged male students. Klumpke underwent similar trials in the `bear pit' as she termed the medical faculty. None of these tensions is even hinted at in La Vie Heureuse, a particularly deceptive example of feminine journalism, implying as it does that for women to succeed in a male world, apart from intelligence, all that is required is a decorous presence. In its lady-like and snobbish way, the magazine reinforced traditional gender stereotypes.''\footcite[S.~322]{feliciagordon} \end{quote} % ./books/GordonF_Pelletier_Pascal_43641154.pdf Aus dem Vereinigten Königreich erlangten Elizabeth Garrett Anderson (1836 -- 1917) als erste und Anne Kingsford (1846 -- 1888) als zweite Frau einen Abschluss in Medizin. Kingsford studierte allerdings in Paris, wo Frauen zwar wie oben beschrieben an der medizinischen Fakultät nicht willkommen waren, aber doch dort studieren durften.\footcite[S.~135f,183]{kingsford} % u. a. % https://archive.org/details/storyofannakings00maituoft Anderson hatte über den Einfluss ihrer Familie die damals in Großbritannien ungewöhnliche Berechtigung zu Studienabschluss und Berufsausübung erlangt. Sie hatte sich wiederum am Vorbild von Elizabeth Blackwell (1821 -- 1910) orientiert, die 1849 am Geneva College in New York in Medizin promoviert und bereits vor Elizabeth Garrett Anderson im ``British Medical Register'' als Ärztin eingetragen war.\footcite[S.~2620]{laurakelly} % TODO Die Verachtung, die weiblichen Studentinnen im deutschen Raum besonders in der Medizin von manchen Seiten entgegenschlug, drückte Ilse Frapan in ihrem Roman ``Wir Frauen haben kein Vaterland'' 1899 aus, was prompt zu Protestveranstaltungen unter Führung von Prof.\,Ulrich Krönlein in Zürich führte. % gender Insgesamt kamen gerade von medizinischer Seite große Bedenken gegen das Frauenstudium schon vor Moebius. Bischoff und Waldeyer waren gegen das Frauenstudium aus ``anatomischen'' Gründen, Johannes Orth sieht 1897 durch Frauen im Seziersaal die Sittlichkeit gefährdet.\footcite[S.~16ff]{burchardt} Ilse Costas führt dies auf den Autoritätsanspruch dank (scheinbarer) wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Bestimmung der Frau zur Fortpflanzung zurück, auf Grund derer manche Vertreter*innen der Medizin die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Frau als geringer einschätzten und ihr die Eignung für das Studium absprachen.\footcite[S.~117]{schlueter} Burchardt nennt aber auch die befürchtete Konkurrenzsituation, auf Grund welcher durch Honorareinbußen eine Art akademisches Proletariat erwartet worden sei.\footcite[S.~18]{burchardt} Ab 1870 wurden in ganz Deutschland Frauenvereine gegründet, viele davon mit dem expliziten Ziel der Zulassung zum Medizinstudium. Erst 1899 fasste der deutsche Bundesrat allerdings den Beschluss, dass zwar nicht die Immatrikulation, aber der außerordentliche Besuch der Lehrveranstaltungen aus den Studien der Medizin, Zahnmedizin und Pharmazie sowie mit entsprechenden Hörer*innenscheinen auch die Zulassung zum Staatsexamen zu gewähren seien. ``Mit dieser Regelung wurde die Zulassung zur Immatrikulation immer mehr zur bloßen Formsache degradiert'', schreibt Hessenauer.\footcite[S.~27]{hessenauer} Die akademische Ausbildung war aber nicht das einzige Hindernis für weibliche Ärztinnen. Wie schon im 18.\,Jahrhundert bei der bereits oben erwähnten Dorothea Christiane Erxleben von manchen Seiten Bedenken über die Arbeitsfähigkeit angesichts ihrer Reproduktionsaufgaben geäußert werden, % TODO: Erxleben "vom Wochenbett unter den Doktorhuth so verschwinden solche Vorbehalte auch im 20.\,Jahrhundert nicht. Es ist etwa für den Hirnforscher Bostroem selbstverständlich, dass die Medizinerin, die er ehelicht, nach der Hochzeit nicht mehr ``arztet''.\footcite[S.~404 Brief August Bostroems an M Nonne vom 13.\,12.\,1919]{peiffer} \subsection{Verwendung historischer Begriffe}\label{ch:disclaimer} Da es sich um ein historisches Thema handelt, wird zwangsläufig auch die Nomenklatur der Quellentexte verwendet. Der Gebrauch von Begriffen wie ``Irre'', ``Irrenanstalt'', ``Wärter*innen'' und vieler anderer erfolgt also im historischen Kontext und stellt keine implizite oder explizite Wertung des gesellschaftlichen Umfelds, der Patient*innen oder des medizinischen Personals dar.